Der Mord an der 15-jährigen Mia in der 9000 Einwohner zählenden Kleinstadt Kandel wirft ein Schlaglicht auf die deutsche Flüchtlingspolitik. Seitdem ein junger Afghane das Mädchen vergangenen Mittwoch vor den Augen ihrer Freunde mitten in einem Drogeriemarkt erstochen hat, streiten Politiker wie Mediziner darüber, ob der Staat zu lax mit jungen Asylbewerbern umgeht. Denn die Frage der Altersbestimmung hat für Flüchtlinge eine zentrale Bedeutung.
Wer unter 18 Jahre alt ist und ohne Angehörige nach Deutschland kam, hat faktisch einen Schutz vor Abschiebungen. Er muss nicht in Gemeinschaftsunterkünften wohnen, sondern kommt in die Gunst intensiver Betreuung bis hin zur privaten Unterbringung in Gastfamilien. Nun fordern viele Unionspolitiker medizinische Pflichttests, um das tatsächliche Alter „unbegleiteter“ Flüchtlinge festzustellen, anstatt diese Einschätzung Jugendamts-Mitarbeitern zu überlassen.
Mord an Freiburger Studentin: Angeklagter log beim Alter
Noch ist unklar, ob der festgenommene Afghane wirklich 15 Jahre alt ist, wie er dem Jugendamt glaubhaft machen konnte. Die zuständige Staatsanwaltschaft im rheinland-pfälzischen Landau erwartet für die „nächsten Tage“ das Ergebnis gerichtsmedizinischer Untersuchungen. In einem ähnlich aufsehenerregenden Fall – dem Sexualmord an einer Freiburger Studentin – ergab eine Zahnanalyse, dass der Angeklagte ebenfalls aus Afghanistan stammende Asylbewerber, nicht wie angegeben 17 Jahre, sondern zwischen 22 und 26 Jahren alt ist, wie die Gutachterin Ursula Wittwer-Backofen erklärte. Die Anthropologin von der Universitätsklinik Freiburg zählt zu den Experten der Altersbestimmung. Dazu werden Wachstums-Merkmale untersucht, die eng mit dem Alter verknüpft sind, erklärt die Professorin: „Also verwenden wir radiologische Methoden, die uns etwas über die Skelettreife sagen.“
Das gilt vor allem für die Handwurzelknochen: Sind die sogenannten Wachstumsfugen auf dem Röntgenbild bereits verschlossen, ist ein Junge zwischen 16 bis 18 Jahre alt, ein Mädchen zwischen 15 und 17, erklärt Wittwer-Backofen. Aufschluss geben auch Wachstumsfugen am Schlüsselbein: Sie schließen im Alter zwischen 20 bis 24 Jahren.
In Schweden flogen 80 Prozent der "minderjährigen" Flüchtlinge als volljährig auf
In Österreich, Schweden und Frankreich sind entsprechende Röntgentests in Zweifelsfällen gesetzlich vorgeschrieben und die Regel. In Schweden wurden vergangenes Jahr bei systematischen Tests 80 Prozent der 2500 angeblich minderjährigen Flüchtlinge als über 18 Jahre eingestuft. Strikt verfahren auch Hamburg und Bremen, sowie das Saarland. Im Saarland wurde ein Drittel der 700 im Jahr überprüften jungen Flüchtlinge für volljährig erklärt. Wie in allen EU-Ländern müssen die Betroffenen der Untersuchung zustimmen. In der Praxis werden sie aber bei Ablehnung automatisch als volljährig eingestuft.
Das bayerische Sozialministerium hat nach eigenen Angaben keine Zahlen. Hier sind entsprechend der Bundesregelung die kommunalen Jugendämter zuständig. Das Sozialgesetzbuch schreibt jedoch seit November vor, dass „das Jugendamt in Zweifelsfällen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen“ habe. Auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat dies schon länger angemahnt.
Die Tests sind unter Medizinern jedoch umstritten. Einigkeit besteht, dass ein exaktes Geburtsjahr mit keiner Methode zu bestimmen ist, sondern eine Abweichung von mindestens ein bis zwei Jahren möglich ist. Rechtsmediziner sind sich aber sicher, zumindest Altersstufen unter 14, unter 18 und unter 21 nachweisen zu können. Der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery lehnt aber ein zwangsweises Röntgen angesichts der Strahlenbelastung kategorisch ab. Dies sei nur im Fall von Strafverfahren zulässig. (mit dpa)