Seit einer Woche sind alle Umfragen Schall und Rauch. Ob die Union nun auf 31 Prozent gefallen ist oder weiter bei 36 Prozent liegt – wer will aus solchen Zahlen noch Rückschlüsse auf die politische Stimmung in Deutschland ziehen? Das Attentat von Berlin hat die Republik ins Mark getroffen, und natürlich wird der Ausgang der Bundestagswahl davon abhängen, welche Lehren die Politik jetzt aus dem Terror-Schock zieht.
Die Zahl der Toten ist zu groß, um einfach zur Tagesordnung zurückzukehren, das Versagen von Behörden und Diensten zu offensichtlich, um es gerade noch so zu tolerieren. Ein einschlägig bekannter Islamist, der bereits in Haft saß und wieder freigelassen wurde, ein Mann, über den es seitenlange Dossiers gibt, der aber kreuz und quer durchs Land reist und nach einem verheerenden Anschlag ungehindert fliehen kann, weil die Polizei das Tatfahrzeug erst mit einem Tag Verspätung durchsucht: Minister sind schon aus nichtigeren Gründen zurückgetreten.
Anschlag in Berlin setzt Angela Merkel unter Druck
Angela Merkel ist lange genug in der Politik, um zu wissen, dass solche Krisen eine gefährliche Eigendynamik entwickeln können – zumal im Mai mit Nordrhein-Westfalen das bevölkerungsreichste Bundesland wählt und im Herbst die ganze Republik. Neben dem Freiheitsversprechen ist der Schutz eben jener Freiheit eines der konstitutiven Elemente des demokratischen Staates, in dem Moment jedoch, in dem das Vertrauen seiner Bürger in die innere Sicherheit erodiert, in den Schutz von Grenzen, in die Arbeit der Polizei und der Geheimdienste oder in die Politik ganz allgemein, bekommt auch die populärste Kanzlerin ein Problem.
Ja, vor Attentaten wie vor der Gedächtniskirche ist kein Land wirklich gefeit – in Berlin jedoch ist die bislang eher abstrakte Terrorgefahr auf eine beängstigend vorhersehbare Weise konkret geworden. Diese Hypothek, ein brisanter Mix aus Nicht-wahrhaben-Wollen und Sich-nicht-zuständig-Fühlen, nimmt die deutsche Politik ins Wahljahr 2017. Ausgang ungewiss.
Merkel kann von Helmut Schmidt lernen
Die AfD versucht längst, aus dem Anschlag Kapital zu schlagen, und in der Koalition erhöht Horst Seehofer den Druck auf Angela Merkel, ihren Kurs zu korrigieren, die Zahl der Zuwanderer zu begrenzen und abgelehnte Asylbewerber schneller abzuschieben. Wo das alles endet, in einem gemeinsamen Kraftakt oder einem historischen Zerwürfnis, ist noch nicht absehbar und hängt nicht zuletzt von der Bereitschaft der Kanzlerin ab, ihre bisherige Politik zu Beginn eines Jahres mit drei Landtagswahlen und einer Bundestagswahl zu hinterfragen. Eine Maßnahme könnte die erneute Überprüfung aller Flüchtlinge sein, die ohne Pass gekommen sind und deren Identität bis heute nicht zweifelsfrei geklärt ist.
Im Bundestagswahlkampf wird die innere Sicherheit zum alles beherrschenden Thema werden, nicht nur für die Union. Auch in der SPD liegen Welten zwischen der pragmatischen Linie ihres Vorsitzenden Sigmar Gabriel und den linken Reflexen seines Stellvertreters Ralf Stegner, der jeden Zusammenhang zwischen der Flüchtlingspolitik und der Sicherheitspolitik leugnet und alle, die das anders sehen, sofort in die rechte Ecke stellt.
Angela Merkel hat sich entschieden, die Union wieder als Spitzenkandidatin in die Wahl zu führen. Auf ihre Popularität alleine kann sie dabei nicht mehr bauen. Nicht von ungefähr wird in diesen Tagen immer wieder eine Rede von Helmut Schmidt aus dem Terrorjahr 1977 zitiert, in der er sein hartes Durchgreifen mit einem Satz begründete, der nach dem Attentat von Berlin aktueller ist denn je: „Wer jetzt noch verharmlost, wer jetzt noch nach Entschuldigungen sucht, der hat sich von der Gemeinschaft aller Bürger isoliert.“