Beginnen wir mit der Ewigkeit. Schließlich ist auch der Weltmeistertitel unvergänglich. Also, dachte sich Malermeister Guido Feuerpeil, wenn schon, denn schon, und so sieht das Haus seiner Eltern aus Mülheim-Kärlich in Rheinland-Pfalz seit dem 14. Juli von außen so aus: der Giebel schwarz, der erste Stock rot, das Erdgeschoss goldgelb. Mittendrin vier Sterne, natürlich vier, dazu die Ziffern 54, 74, 90, 14. Jede Jahreszahl steht für einen deutschen WM-Triumph. Und von wegen netter Gag: „Das ist eine Dauerlösung“, sagt die Ehefrau, Saba Feuerpeil.
Eine Entscheidung für die Ewigkeit. Behaupte noch einer, vom WM-Titel sei nicht viel geblieben.
Und sonst?
Vier Wochen liegt der kollektive Glücksmoment zurück. Das wichtigste Sportereignis der Welt, und dann gewinnen die Deutschen, Jogis Jungs, endlich. Millionen außer Rand und Band, ein Freudenrausch in Schwarz-Rot-Gold. Nun sind besagte Jungs in Urlaub. Die Fanmeilen haben dem öffentlichen Verkehr wieder Platz gemacht. Und die Fans? Haben Schlaf nachgeholt, sind in den Alltag zurückgestolpert und mittlerweile in Massen mit dem Ferienflieger entschwunden. Was bleibt, ist die Frage, wie ein solches Ereignis nachwirkt – in der Gesellschaft, in den Köpfen, in den Geldbeuteln, ja in der hohen Politik.
Die Fahnen fransen aus
Das Offensichtlichste ist das, was sichtbar bleibt. An den Fenstern und Autodächern etwa, wo ein paar letzte Deutschland-Fahnen dem Sturm der Sommergewitter trotzen, an den Rändern lösen sich schon die Fäden. Im Zeitschriftenhandel, wo Magazine in Sonderausgaben die schönsten Tore, die bewegendsten Momente, die hübschesten Spielerfrauen in Erinnerung rufen. An manchem Büroschrank, wo der mit allen Ergebnissen handschriftlich gepflegte WM-Spielplan dem Ordnungssinn der Putzkolonne widerstanden hat.
Aber sonst?
Erfolg in der modernen Welt macht sich im Geldbeutel bemerkbar. Das fängt bei den Nationalspielern an. 300000 Euro Prämie gab es pro Kopf. Aber man denkt ja immer gleich auch an die Volkswirtschaft. Dirk Schlotböller ist Konjunktur-Experte des Deutschen Industrie- und Handelskammertages und denkt – wer nicht? – gerne an das Turnier 2006 zurück. Das Sommermärchen. Damals, erzählt er, ging man hinterher davon aus, dass die WM im eigenen Land einen zusätzlichen Wachstumseffekt von „einem Drittel Prozentpunkt“ hatte.
Der Bierabsatz ist gestiegen
Und diesmal? Schlotböller sagt: „Die Sportartikel-Branche dürfte sicherlich davon profitieren, die Gastronomie oder auch der eine oder andere Hersteller von Knabberzeug.“ Der Deutsche Brauer-Bund, auch das überrascht nicht, hat bereits einen gestiegenen Bierabsatz vermeldet. Aber insgesamt schlage sich das alles nicht in einem höheren Wachstum nieder, dämpft Schlotböller die Erwartungen. „Es ist ein Unterschied, ob eine Weltmeisterschaft vor der eigenen Haustüre oder im Ausland stattfindet.“
Und dass der Export Auftrieb erhält, weil die Nationalmannschaft eine so überzeugende Visitenkarte für das Land abgegeben hat? Da muss Schlotböller schmunzeln: „Deutsche Waren hatten bislang schon einen exzellenten Ruf. Dafür benötigt man keine Fußball-Weltmeisterschaft.“
Ein Umstand ist dann aber doch erstaunlich – Stichwort Sportartikel. Am Nationaltrikot der Deutschen prangt künftig, links oben auf Brusthöhe, ein vierter Stern – für jeden Titel einer. Allein diese Tatsache und nicht etwa, weil nun ein Designwechsel ansteht, hat zu solch einer gewaltigen Nachfrage beim Hersteller Adidas geführt, dass der mit der Produktion in China nicht mehr hinterherkommt. Nebenbei bemerkt: Das Trikot kostet für Erwachsene 85, für Kinder 65 Euro.
In welches Fachgeschäft man auch geht, überall heißt es: Lieferung des Vier-Sterne-Leibchens erst in einigen Tagen. Bei Sportscheck in Augsburg erhält man die Auskunft, zwei Tage nach dem Finale seien zwar 30 Stück gekommen. „Aber die waren binnen 15 Minuten weg.“ Seitdem: warten.
Beim Konkurrenten Förg ist das nicht anders. Dort wiesen bis vor wenigen Tagen noch kleine Fußball-Aufkleber am Boden den Weg in die Fachabteilung, an den Wänden hingen Fahnen und Fotos früherer WM-Turniere. Kunden durften den Triumph also noch ein wenig nachspüren. Aber auch hier: Vormerken lassen geht, das Trikot mit nach Hause nehmen noch nicht.
Der Aktienwert von Adidas ist im Keller
Für Adidas sind das eigentlich prima Aussichten. Beobachter rechnen mit etwa 200000 zusätzlich verkauften Trikots. Am Tag nach dem Endspiel stieg die Aktie gleich einmal um fast drei Prozent. Doch mittlerweile hat sich das Blatt gewendet. Am Donnerstag veröffentlichte der fränkische Konzern wegen Problemen im Russland-Geschäft und in der Golf-Sparte eine Gewinnwarnung. Seitdem ist der Aktienwert in den Keller gerauscht.
Schenkt man den überschwänglichen Kommentaren aus dem Ausland Glauben, die nach dem Schlusspfiff durch die Medienkanäle rauschten, dann ist jetzt vor allem ein „Produkt“ gefragt, angeblich so gefragt wie nie: Deutschland. Deutschland? Das amerikanische Nachrichtenmagazin Newsweek rief auf seinem Titel „The German Century“ aus, das deutsche Jahrhundert.
Selbst die Briten schicken Liebesgrüße
Mit Bildern einer allen Krisen trotzenden Wirtschaft, einer unantastbaren Kanzlerin, mit Fleischwurst, Bier und Playmobil-Figuren, ach ja, und dem WM-Siegtorschützen Mario Götze. Eine ungeahnte Sympathiewelle schwappt ins Land herein, selbst die Briten nebst ihren sonst zu fiesen Attacken neigenden Boulevardblättern schicken Liebesgrüße von der Insel herüber.
Dahinter steckt „eine verblüffend einfache Logik“, sagt Professor Swen Körner von der Deutschen Sporthochschule in Köln. Wer sportliche Erfolge feiert, so die krude Annahme, müsse auch auf anderen Feldern zu Höchstleistungen fähig sein. „So entsteht die Vorstellung von Deutschland als neuer Weltmacht“ – sportlich, wirtschaftlich, politisch.
Dass der Sport als Instrument des politischen Kalküls dient, ist ja nicht neu. Viele Politiker haben sich schon im Glanz von Weltmeistern und Olympiasiegern gesonnt. Angela Merkel war gleich zweimal in Brasilien – zum ersten Spiel gegen Portugal und zum Endspiel, jeweils mit Abstecher in die Mannschaftskabine. Die Meriten erntete sie wenige Tage später via ZDF-Politbarometer. Merkel erzielte bei der monatlichen Umfrage den höchsten Beliebtheitswert ihrer Amtszeit.
Die Deutschen fühlen sich gut
Überhaupt, so sieht das die Forschungsgruppe Wahlen, hat der Weltmeister-Titel das ganze Land in Hochstimmung versetzt. Selten haben so viele Menschen, 62 Prozent, ihre persönliche wirtschaftliche Lage als gut beurteilt. Und auch die wirtschaftliche Situation des Landes wird sehr positiv gesehen.
Dass sich drei Wochen nach der Nacht von Rio die Menschen nicht mehr freudetrunken in den Armen liegen, findet Hochschul-Professor Körner „nur allzu menschlich“. Euphorie sei ein emotionaler Zustand, der mit zunehmendem zeitlichen Abstand zum Ereignis verblasse. Man halte den Moment trotzdem fest, das sehe man an der Nachfrage nach dem Deutschland-Trikot – trotz einer nur minimalen optischen Veränderung. Körner nennt das die „Macht des Symbolischen“. Auch kann er sich gut vorstellen, dass der Titel noch einmal steigende Zuschauerzahlen in der Bundesliga zur Folge haben könnte – „wenn das überhaupt noch geht“.
Ukraine-Krise und Gaza-Konflikt haben den Jubel getrübt
Und wenn man dieses Turnier nun mit dem Jubel nach dem Titelgewinn 1990 oder dem Sommermärchen 2006 vergleicht? „Diesmal haben in den Tagen danach die Ukraine-Krise und der Gaza-Konflikt die Nachfreude sicher etwas getrübt“, sagt Körner. Auch stünden heute viele dem Sport skeptischer gegenüber, Stichwort Korruption. Im Vergleich zu 1990 sei der jetzige Titel zudem erwartbarer gewesen: „Aus Sicht der Bevölkerung war die Zeit reif.“ Und 2006 war die räumliche Nähe ganz entscheidend für die Ausgelassenheit der Menschen.
Die war übrigens so groß, dass der Bayerische Fußball-Verband in jenem Jahr rund 47000 neue Spielerpässe im Juniorenbereich ausstellte, fast 7000 mehr als im Jahr zuvor. Ein enormer Anstieg, der diesmal nicht zu erwarten ist, schon allein, weil die Gesamtzahl der Kinder schrumpft. Noch sei es zu früh, über konkrete Effekte zu reden, sagt Verbandssprecher Thomas Müther. Nach den Sommerferien sei man schlauer. Aber: „Wir erhoffen uns schon einen Schub.“ Eine Einschätzung, die der schwäbische Jugendleiter Christoph Striedelmeyer teilt.
Der Neuburger Bäcker Heckl wird sich noch lange an die WM erinnern
Schließen wir mit einem ungewöhnlichen Moment im Leben von Manfred Heckl. Er ist Chef einer Bäckerei mit Stammhaus in Rennertshofen bei Neuburg an der Donau. Als Geschäftsmann lässt man sich schon mal kleine, zeitlich befristete Aktionen einfallen, sozusagen Appetithappen für treue Kunden und solche, die es mal werden sollen. Weil gerade WM war, gab Heckl die Devise aus: Bei einem Einkauf ab 1,11 Euro erhält jeder Kunde von „Heckl’s Backparadies“ für jedes geschossene Tor der Deutschen eine Semmel gratis.
So weit war das gut durchgerechnet. „Für jeden deutschen Treffer“, erzählt Heckl, „gab es eine eigene Kalkulation.“ Dann kamen der 8. Juli, irrsinnige sieben Tore gegen Brasilien, nicht enden wollende Schlangen in den 16 Filialen und Verkäuferinnen, die „hoffnungslos überlastet“ waren, so Heckl. Den Tag über ließ er 50 000 Semmeln extra backen. Selbst die reichten nicht. So mancher Kunde erhielt seine „Prämie“ erst mit Verspätung. Ein Bäckermeister überrollt von der Kraft des Unplanbaren.
Entscheidend ist: "Wir sind Weltmeister."
Ist es das, was ihm von der WM 2014 bleiben wird? Heckl überlegt kurz. „Nun“, sagt er dann, „das war sicher kein ertragreicher Tag.“ Inzwischen habe er das aber verdaut. „Es war ein Gag und die Kunden waren zufrieden.“ Punkt.
Entscheidend sei doch ganz was anderes, findet Heckl. Er holt kurz Luft, dann sagt er: „Wir sind Weltmeister.“