Es kommt nicht häufig vor, dass sich die Zeitungen im Vereinigten Königreich einig sind. Zum Wochenanfang aber forderten sowohl der linksliberale The Guardian als auch die sensationsgierige Boulevardzeitung The Sun dasselbe von der Regierung: die Prüfung der Vorwürfe, nach denen das britische Innenministerium Kindesmissbrauch unter Parlamentariern in den 80er Jahren vertuscht habe.
Innenministerin Theresa May kündigte eine groß angelegte Untersuchung von unabhängigen Experten an. Sie werden in den kommenden Wochen prüfen, wie Innenministerium, Polizei und Strafverfolgungsbehörden mit Informationen und potenziell belastendem Material umgegangen seien. Leiten soll die Untersuchung der Vorsitzende einer britischen Kinderschutzorganisation.
Premierminister Cameron verspricht bedingungslose Aufklärung
Ein zweites Expertengremium soll prüfen, wie öffentliche Einrichtungen mit Kindesmissbrauch umgegangen sind. Die Regierung werde „alles ihr Mögliche tun, um eine umfassenden Untersuchung von Kindesmissbrauch und die Verfolgung der Täter zu ermöglichen“, sagte May. Premierminister David Cameron versprach, es werde „kein Stein auf dem anderen bleiben, um die Wahrheit über das herauszufinden, was passiert ist“.
Es geht um einen angeblichen Kinderschänder-Ring im britischen Parlament. Laut Daily Telegraph stehen mehr als zehn ehemalige oder noch amtierende Politiker unter dem Verdacht des Kindesmissbrauchs. Weitere 20 Politiker aus dem Ober- und Unterhaus des Parlaments sollen von dem Missbrauch gewusst und die Vorgänge verschwiegen haben. Am Sonntag wurde dann bekannt, dass massenhaft Akten zu den Vorwürfen im Innenministerium nicht mehr auffindbar sind. Der inzwischen verstorbene Abgeordnete Geoffrey Dickens hatte vor 31 Jahren ein Dossier erstellt, das angeblich Hinweise auf sexuellen Kindesmissbrauch durch Parlamentarier und andere Prominente enthielt.
Wieso sind mehr als ein Fünftel der Akten verschwunden?
Das Ministerium gestand ein, dass 114 von 527 Akten zu diesem Thema entweder vernichtet wurden oder anderweitig abhanden gekommen sind. Warum verschwand das brisante Dossier auf mysteriöse Weise? Die Medien spekulieren, dass die Vorgänge mit Absicht unter den Teppich gekehrt werden sollten. Der Labour-Abgeordnete Keith Vaz, Vorsitzender des Innenausschusses des Unterhauses, sprach von einem „Aktenverlust von industriellem Ausmaß“. Norman Tebbit, der in den 80er Jahren Mitglied im Kabinett von Margaret Thatcher war, deutete an, dass zu jener Zeit möglicherweise ein Skandal vertuscht wurde. „Die meisten Leute waren damals meiner Einschätzung nach überzeugt davon, dass das Establishment, das System, geschützt werden müsste“, sagte Tebbit der BBC.
Auch wenn es schon in den 80er Jahren Untersuchungen zu pädophilen Praktiken von Abgeordneten des Parlaments gegeben hat, schocken die Berichte nun die Insel. Die Londoner Polizei richtete mittlerweile ein eigenes Dezernat ein.
Ob der Name des früheren konservativen Innenministers Leon Brittan auf jener Liste steht, die der pensionierte Polizist und Informant Peter McKelvie schon vor zwei Jahren an die Ermittlungsbehörden übergab und auf der Namen von verdächtigen amtierenden und früheren Politikern standen, ist nicht bekannt. Doch der 74-Jährige geriet in die Schlagzeilen, weil er laut Medienberichten im Juni wegen des Vorwurfs einer angeblichen Vergewaltigung eines Teenagers im Jahr 1967 von der Polizei verhört worden war. Lord Brittan, der von 1983 bis 1985 Innenminister in der Regierung Thatcher und später EU-Kommissar in Brüssel war, bestreitet die Anschuldigungen.
Das volle Ausmaß des Skandals ist derweil noch nicht absehbar.