Tutzing Der Bundespräsident hat erklärt: „Der Islam gehört zu Deutschland“, und der Autor Thilo Sarrazin stellte die Behauptung auf: „Deutschland schafft sich ab.“ Darüber werden seit Monaten ideologische Schlachten geschlagen. Auch die Evangelische Akademie Tutzing versuchte sich an dem Thema, mit dem guten Vorsatz, einen Konsens zu finden. Aber am Überzeugendsten war am Ende einer, der alle Ideologie außen vor ließ, der gar nicht über den Islam sprach, sondern ganz allgemein über die Integration von Kindern aus bildungsfernen Schichten, egal ob deutscher oder fremdländischer Herkunft, und dessen Botschaft in dem Satz gipfelte: „Wir müssen die Eltern umdribbeln!“
Heinz Buschkowsky, der Bürgermeister von Berlin-Neukölln, dem wohl problembeladensten Bezirk der Hauptstadt mit 300000 Einwohnern, setzt ganz auf die Kinder: Er will die Infrastruktur einer „Welt der Kinder“ aufbauen, er will sie hungrig machen auf selbstbestimmte Ziele, ihnen Selbstsicherheit vermitteln. Auf die Eltern warten? „Nein“, sagt der hemdsärmelige Sozialdemokrat, „die Zeit haben wir nicht.“ Bildungsferne Schichten und überforderte Eltern, das gebe es immer mehr, keineswegs nur in Migrantenmilieus. Deswegen verlangt er die Kindergartenpflicht ab dem ersten Lebensjahr („man kann es auch verbindliche Vorschulerziehung nennen, das klingt nicht so hart“) und Ganztagsschulen. Wie aus einer Problemschule ein Erfolgsmodell werden kann, wurde in Neukölln an der Rütli-Schule gezeigt. Für seinen lösungsorientierten Ansatz erntet Buschkowsky den stärksten Beifall in Tutzing.
Die Diskussion um und mit Thilo Sarrazin wirkt dagegen hölzern und rechthaberisch. Das ehemalige Mitglied des Bundesbankvorstands ist zwar um Sachlichkeit bemüht, beharrt aber darauf, dass es – trotz Einzelfällen gelungener Integration – mit muslimischen Einwanderern auf der ganzen Welt Probleme gebe. „Sie neigen zur Bildung von Parallelgesellschaften“, Integrationswille und wirtschaftlicher Erfolg seien unterdurchschnittlich. Und dann kommen von Sarrazin auch die erwarteten provokativen Sätze: „Mit Arbeitslosigkeit lässt sich in Deutschland ein höherer Lebensstandard erreichen als mit Arbeit in der Türkei“, sagt er, und: „Das größte Integrationshemmnis ist der deutsche Sozialstaat.“ Deutschland brauche andere, tüchtigere Einwanderer, zum Beispiel aus Asien.
Der Schriftsteller Johano Strasser, SPD-Mitglied wie Sarrazin, übernimmt die Rolle des politisch Korrekten und wirft jenem ein „unerträgliches“ Menschenbild vor. Sarrazin beurteile Menschen nur nach ihrer Nützlichkeit, aber „Menschen sind kein Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck“. Ähnlich sieht das der Ratsvorsitzende der evangelischen Kirche in Deutschland, Präses Nikolaus Schneider: „Der Sozialstaat ist keine Frage der Nützlichkeit, sondern auch eine Frage der Menschlichkeit.“ Alleine der Autor Henryk Broder macht sich über die deutsche Empörung über Sarrazin lustig und spottet: „Man versucht, an den Moslems gutzumachen, was man an den Juden verbrochen hat.“
Während der Imam Benjamin Idriz aus Penzberg bekräftigt, dass der Islam zu Deutschland gehöre („die Muslime leben hier und werden bleiben“), missfällt anderen türkischstämmigen Referenten, dass sie nur noch über die Religion definiert werden. Es komme doch auch niemand auf die Idee, statt „deutscher Wirtschaft“ von „christlicher Wirtschaft“ zu reden, ereifert sich der Hamburger Unternehmer Vural Öger. „Früher sprach man von Gastarbeitern oder von Türken“, sagt auch die aus Deutschland nach Izmir zurückgekehrte Anwältin Nevin Can, „aber seit dem 11. September 2001 ist nur noch von Muslimen die Rede.“ Öger fragt sichtlich verärgert: „Was hat die Türkei mit El Kaida zu tun?“ Außerdem sei ein Drittel der Türken in Deutschland Aleviten, „und die gehen nicht in die Moschee und die Frauen tragen keine Kopftücher“.
Übrigens: 40 Prozent der Migranten aus der Türkei haben noch nie etwas von Sarrazin gehört. Aber zehn Prozent stimmen dessen provokanten Thesen sogar zu.