Diese Watschn sitzt. Die Alternative für Deutschland satt zweistellig, die Sozialdemokraten im freien Fall und die Union so schlecht wie seit Jahrzehnten nicht mehr: Die Zeit der stabilen, berechenbaren Verhältnisse ist seit Sonntagabend, 18 Uhr, auch in Deutschland vorbei. Fast ein Viertel der Wähler hat für die FDP und die AfD gestimmt – zwei Parteien, die im letzten Bundestag überhaupt nicht vertreten waren. Eindeutiger kann ein Misstrauensvotum gegen die etablierte Politik kaum ausfallen.
Machen wir uns nichts vor: Natürlich hat dieses Beben mit der Flüchtlingskrise zu tun und der im ganzen Land mit Händen zu greifenden Sorge, dass der Politik die Probleme über den Kopf wachsen. Union und SPD haben versucht, das Thema im Wahlkampf möglichst klein zu halten und dafür nun einen Denkzettel erhalten.
Angela Merkel, so viel ist bereits sicher, wird sich warm anziehen müssen für ihre vierte Amtsperiode als Kanzlerin. Die Fliehkräfte im Parteiengefüge beschleunigen sich, ihr Amtsbonus ist aufgebraucht und ein fragiles Bündnis mit den Grünen und der FDP offenbar ihre einzige Koalitions-Option. Eine Koalition, die im Prinzip keiner will, auch in den beteiligten Parteien nicht.
So triumphal die Liberalen zurück auf die große politische Bühne gekehrt sind, so erfolgreich die AfD mit ihrer Anti-Merkel-Kampagne war, so demütigend ist das Wahlergebnis für die Platzhirsche CDU, CSU und SPD. Ihre Bindekraft schwindet, ihr personelles Angebot ist von überschaubarer Faszination, ihr Blick auf die Welt zu sehr von strategischen Interessen geprägt. Am Ende aber war es vor allem die Politik der offenen Grenzen, die der AfD in die Karten gespielt hat. Alleine die Union hat eine Million Wähler an sie verloren.
Dass die SPD eine Neuauflage der alten Koalition ausschließt, ist vor diesem Hintergrund nur allzu verständlich. Seit 2005 haben die Sozialdemokraten weit mehr als ein Drittel ihrer Anhänger verloren und fünf Vorsitzende verschlissen, Martin Schulz noch nicht mitgerechnet.
Ob sich Martin Schulz halten kann, ist nicht sicher
Ob er sich als Parteichef halten kann, ist alles andere als sicher. Die nächste Generation, angeführt von Andrea Nahles und Manuela Schwesig, lauert längst auf ihre Chance. Vier Jahre Opposition sind für sie keine verlorene Zeit, sondern eine Gelegenheit, die Partei neu auf- und auszurichten. Eine Bewerbung von Andrea Nahles um das Amt der Fraktionsvorsitzenden könnte ein erstes Signal sein, dass die Jungen es ernst meinen.
Auch bei der CSU, die regelrecht abgestürzt ist, schrillen jetzt alle Alarmglocken. Wenn FDP und AfD bei der Landtagswahl im nächsten Jahr auch nur annähernd so gut abschneiden wie jetzt auf Bundesebene, kann Horst Seehofer seinen Traum von der Verteidigung der absoluten Mehrheit begraben. Dann wäre nicht nur der Nimbus von der schier uneinnehmbaren Festung Bayern ein Stück weit ramponiert, sondern auch der von Seehofer selbst. Er ist ja vor allem deshalb so stark, weil er die CSU nach der verkorksten Wahl 2008 wieder stark gemacht hat.
Für ihn beginnt mit dem heutigen Tag der Landtagswahlkampf – und entsprechend kompromisslos wird er auch in den Koalitionsverhandlungen auftreten. Eine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen, kräftige Steuersenkungen und Joachim Herrmann als Innenminister: Seehofer muss beweisen, dass er in Berlin auch etwas durchsetzen kann.
Die Kanzlerin geschwächt, dazu ein schwer auszurechnender CSU-Vorsitzender und mit den Grünen und den Liberalen vermutlich zwei Koalitionspartner, die praktisch nichts miteinander verbindet: Eine solche Bundesregierung wäre eine Regierung mit eingebauter Sollbruchstelle. Kaum vorstellbar, dass sie die vollen vier Jahre durchhält.
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