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Prozess um Stuttgart 21: Später Sieg für Dietrich Wagner und weitere Gegner von Stuttgart 21

Prozess um Stuttgart 21

Später Sieg für Dietrich Wagner und weitere Gegner von Stuttgart 21

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    Im Herbst 2010 traf Dietrich Wagner der Strahl eines Wasserwerfers am Auge. Das Urteil ist für ihn eine Genugtuung. Doch heute ist sein Augenlicht fast erloschen.
    Im Herbst 2010 traf Dietrich Wagner der Strahl eines Wasserwerfers am Auge. Das Urteil ist für ihn eine Genugtuung. Doch heute ist sein Augenlicht fast erloschen. Foto: Marijan Murat, dpa

    Gut fünf Jahre haben die Gegner des Milliardenprojekts Stuttgart 21 darauf warten müssen. Jetzt die Genugtuung: Das Verwaltungsgericht hat den Polizeieinsatz, der am 30. September 2010 bundesweit für Schlagzeilen sorgte, jetzt für rechtswidrig erklärt. Die zahlreich erschienenen Projektgegner klatschen dem Vorsitzenden Richter Walter Nagel im Gerichtssaal spontan Beifall. Und doch: An der Stelle, wo der umstrittene Polizeieinsatz zur Räumung des Schlossgartens stattfand, graben inzwischen die Bagger den Trog für den unterirdischen Bahnhof.

    Zwei Männer stützten damals im Schlossgarten in Stuttgart den durch einen Wasserwerfer verletzten Dietrich Wagner.
    Zwei Männer stützten damals im Schlossgarten in Stuttgart den durch einen Wasserwerfer verletzten Dietrich Wagner. Foto: Marijan Murat/Archiv (dpa)

    Dietrich Wagner, der durch die Wasserwerfer fast blind wurde, spricht von einem „guten Tag für die Demokratie“. Ein typischer Satz. Für die übrig gebliebenen Gegner, die sich noch immer jeden Montag zur Demo treffen, geht es längst um mehr als den Bahnhof. Sie sehen eine Verschwörung von Politik, Kapital und Bahn, die über die Köpfe der Bürger hinweg das in ihren Augen sinnlose Projekt durchdrücken. Diese Weltsicht hat ihren Ursprung mindestens zum Teil in jenem 30. September vor fünf Jahren, der sich als „Schwarzer Donnerstag“ tief in das Gedächtnis der Projektgegner eingegraben hat. Weil die Bahn für Vorarbeiten zum Bau des unterirdischen Bahnhofs Bäume fällen wollte, räumte die Polizei in einem Großeinsatz den Schlossgarten und sperrte ein Baufeld. Der vorab bekannt gewordene Einsatz lief völlig aus dem Ruder, über 100 Menschen wurden verletzt.

    Platzverweise und Einsatz der Wasserwerfen waren rechtswidrig

    Das Verwaltungsgericht hat sich viel Zeit gelassen für seine Entscheidung über die sieben Klagen. Aber das Urteil ist unmissverständlich. Immer wieder fällt in Richter Nagels Begründung der Schlüsselbegriff „rechtswidrig“. Das gelte für die von der Polizei ausgesprochenen Platzverweise, ebenso für den Einsatz von Wasserwerfer und Pfefferspray. Nagel sprach davon, dass da „mit Kanonen auf Spatzen geschossen wurde“.

    Für die Richter war der Protest gegen die Baumrodung eine spontane Versammlung. Und die stünde rechtlich unter besonderem Schutz. Bei solchen Einsätzen seien die Hürden für Polizeieinsätze besonders hoch. „Eine Versammlung verliert ihren Schutz erst bei kollektivem Unfrieden“, zieht Nagel die Grenze des Erlaubten. Zwar seien aus den Reihen der Demonstranten Polizisten mit Pfefferspray und Wasserflaschen angegriffen und auch beleidigt worden. Aber das sei angesichts von mehreren Tausend Demonstranten eine Minderheit gewesen.

    Polizei hätte nur gegen einzelne Gewalttäter vorgehen dürfen

    Gegen einzelne Gewalttäter hätte die Polizei durchaus vorgehen dürfen, betont Nagel. Aber vor dem Aussprechen von Platzverweisen und dem Einsatz von Wasserwerfern hätte zunächst die Versammlung aufgelöst werden müssen. Das aber sei unterblieben.

    Auch für Ministerpräsident Winfried Kretschmann und seine Grünen ist das Urteil eine späte Genugtuung. „Gerecht“ nennt der Regierungschef die Entscheidung des Gerichts. Zugleich hat er ein Problem. Denn die verbliebenen Projektgegner nehmen seine Regierung in Mithaftung. „Ministerpräsident Kretschmann drückt sich vor der Verantwortung und macht den Schwarzen Donnerstag zum Tabu-Thema“, kritisiert der Sprecher der Parkschützer, der mittlerweile im Hauptberuf für den Landesverband der Linken spricht. Viele Geschädigte würden bis heute vergeblich auf eine Entschädigung warten.

    SPD-Innenminister überrascht über Deutlichkeit des Urteils

    Genau an dieser Stelle macht der Grünen-Abgeordnete Uli Sckerl Druck: „Ich plädiere für eine außergerichtliche Regelung der Entschädigung.“ Die Regierung solle alsbald die Verletzten zu Gesprächen einladen. Sckerl will verhindern, dass sie in einem Zivilprozess ihre Ansprüche durchsetzen müssen. Wagners Anwalt Frank-Ulrich Mann bringt für seinen Mandanten schon einmal die Summe von 100.000 Euro ins Gespräch. So weit geht SPD-Innenminister Reinhold Gall gestern nicht. Er ist ein wenig überrascht über den Tenor des Urteils: „Mit dieser Deutlichkeit habe ich nicht gerechnet.“ Gleichwohl kündigt er an, das Land werde das Urteil „voraussichtlich akzeptieren“. Als Dienstherr bedauere er, dass durch „unverhältnismäßiges Einschreiten der Polizei Menschen zu Schaden gekommen sind“.

    Die Besatzungen der Wasserwerfer kamen mit Geld- und Bewährungsstrafen davon. Der damalige Stuttgarter Polizeichef Siegfried Stumpf als oberster Einsatzleiter hat einen Strafbefehl wegen fahrlässiger Körperverletzung akzeptiert und ist vorbestraft.

    Untersuchungsausschuss soll Einflussnahme der CDU-Regierung klären

    Während die strafrechtliche Aufarbeitung wohl endgültig abgeschlossen ist, geht der Streit um politische Einflussnahme weiter. In einem ersten Untersuchungsausschuss vor der Landtagswahl im März 2011 hatten CDU und FDP noch die Mehrheit und setzten im Abschlussbericht ihre Linie durch, dass die Politik der Polizei freie Hand ließ. „Das war falsch“, triumphiert Sckerl jetzt. Nach dem Machtwechsel setzten Grüne und SPD einen zweiten Untersuchungsausschuss durch. Die neuen Mehrheitsverhältnisse werden dafür sorgen, dass der zu einer anderen Einschätzung kommt.

    Politisch verantwortlich ist die damalige CDU-geführte Regierung von Ministerpräsident Stefan Mappus. Die von manchem Gegner erhoffte Entschuldigung bleibt auch gestern aus. Aus den Reihen der heutigen Opposition dröhnt nur Schweigen.

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