„Wer betrügt, der fliegt.“ Kaum eine Wahlkampf-Parole der letzten Jahre wurde so hitzig diskutiert wie diese. Die CSU warnte mit dem brachialen Spruch vor einer drohenden „massenhaften Zuwanderung in unsere Sozialsysteme“ und bekam zumindest Applaus vom Stammtisch. Die politische Konkurrenz sprach von billigem Populismus. Doch im September schaltete sich der Europäische Gerichtshof ein und stellte klar, dass Deutschland EU-Bürgern Sozialleistungen verweigern darf. Damit schien die Debatte entschärft – bis das Bundessozialgericht in der vergangenen Woche ein zunächst kaum beachtetes, aber brisantes Urteil fällte.
Die Richter bestätigten zwar, dass EU-Ausländer nicht automatisch Anspruch auf Hartz IV haben. Doch spätestens nach sechs Monaten Aufenthalt in Deutschland stehe ihnen die gleiche Summe in Form von Sozialhilfe zu. Nun sind vor allem Städte und Landkreise in Aufregung. Denn anders als die Hartz-IV-Leistungen, die vom Bund getragen werden, müssen für Sozialhilfeausgaben die Kommunen aufkommen. Es dürfte mehr als ein kurzer Aufschrei sein. Denn inmitten der Flüchtlingskrise könnte das Urteil wie eine Einladung des deutschen Sozialstaates wirken.
EU-Ausländern steht nach sechs Monaten die gleiche Sozialhilfe-Summe wie Hartz IV zu
Das Landessozialgericht Essen rechnet damit, dass etwa 130 000 Personen von der neuen Rechtslage profitieren könnten, vor allem Zuwanderer aus Rumänien und Bulgarien. Der Deutsche Landkreistag geht von ähnlichen Zahlen aus und beziffert die zusätzlichen Ausgaben auf bis zu 800 Millionen Euro für die Kommunen – pro Jahr.
„Das ist kein Pappenstiel“, sagt Hauptgeschäftsführer Hans-Günter Henneke. Und Augsburgs Oberbürgermeister Kurt Gribl holt den Taschenrechner raus: „Pro Großstadt wird sicher ein sechsstelliger Betrag fällig“, sagt der stellvertretende Vorsitzende des Bayerischen Städtetages im Gespräch mit unserer Zeitung. „Die Kommunen sind aufgrund des Flüchtlingszustroms ohnehin über Gebühr belastet. Zusätzliche Belastungen sind ihnen nicht zuzumuten“, warnt Gribl.
Die Richter berufen sich in ihrem überraschenden Urteil auf das Bundesverfassungsgericht. Das hat entschieden, dass der Staat nicht nur verpflichtet ist, das Existenzminimum für deutsche Bürger, sondern auch für Asylbewerber sicherzustellen. Doch was ist mit Menschen, die nicht vor Gewalt und Krieg fliehen, sondern „nur“ nach Deutschland auswandern, weil sie sich hier eine bessere wirtschaftliche Perspektive erhoffen? Gribl sieht in dem Sozialgerichtsurteil durchaus einen Anreiz, hierher zu kommen, um Sozialhilfe zu kassieren.
Staat muss auch Asylbewerbern das Existenzminimum zur Verfügung stellen
Ein Alleinstehender erhält 404 Euro Sozialhilfe monatlich. Hinzu kommen die Kosten für die Unterbringung. Gedacht ist diese Leistung aber eigentlich nur für Menschen, die selbst nicht (mehr) erwerbsfähig sind. Und so birgt der Richterspruch eine Menge Konfliktpotenzial. Ob die CSU nun ihren viel kritisierten Wahlkampf-Slogan „Wer betrügt, der fliegt“ noch einmal aus der Schublade holt, ist fraglich. Die „Abteilung Attacke“ in der Münchner Parteizentrale ist jedenfalls schon aktiviert. CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer hält das Urteil für „fatal und teuer“. Seiner Ansicht nach widerspricht es auch der europäischen Rechtsprechung. „Deutschland ist doch kein Vollkasko-Staat“, sagt Scheuer auf Anfrage unserer Zeitung und fügt hinzu: „Eigenleistung muss was gelten und nicht die soziale Hängematte.“
Augsburgs Oberbürgermeister Gribl drückt es diplomatischer aus: „Unsere soziale Absicherung haben sich unsere Bürger mit eigener Arbeit verdient. Die Belastung dieser Absicherung durch Zuwanderer, die wegen der Sozialleistungen zu uns kommen, ist objektiv ungerecht und strapaziert das zumutbare Maß an Solidarität.“