Seit die Balkanroute geschlossen ist und die Türkei ihre Außengrenze zur EU dichthält, hat der Andrang von Flüchtlingen aus den Bürgerkriegsregionen des Mittleren Ostens stark nachgelassen. Im Griff oder gar gelöst ist die Flüchtlingskrise damit nicht, zumal sich nun auch der Migrationsdruck aus Afrika verstärkt.
Im vergangenen Jahr sind über 180.000 Afrikaner übers Mittelmeer nach Italien gekommen. Sie haben die lebensgefährliche, für viele zum tödlichen Verhängnis werdende Überfahrt auf meist seeuntauglichen Booten geschafft und suchen nun ihr Glück und ein besseres Leben in Europa. Für heuer rechnen Experten mit der Ankunft von bis zu 400.000 Afrikanern. Nach Ansicht von EU-Parlamentspräsident Tajani steht die große afrikanische Völkerwanderung nach Norden erst an ihrem Beginn – getrieben von einem rasanten Wachstum der Bevölkerung, die sich bis 2050 auf unglaubliche 2,5 Milliarden verdoppeln wird. Tajani schätzt, dass in den nächsten Jahren bis zu 30 Millionen Afrikaner ihr Glück in Europa suchen könnten – weil sie teilhaben wollen am Wohlstand vor ihrer Haustür und weil sie in ihren verelendeten, miserabel regierten Heimatländern keine Aussicht auf eine Besserung ihrer Lage sehen.
Es mag sein, dass Tajani mit seinen Zahlen zu dick aufträgt. Aber alle Afrika-Kenner stimmen darin überein, dass sich Millionen junger Afrikaner unter dem Druck wirtschaftlicher Not auf den beschwerlichen Weg in Richtung des schon heute von Invasionsängsten geplagten Europa aufmachen werden. Auf die EU kommt also eine dramatische, eine epochale Herausforderung zu. Und es sieht nicht so aus, als ob sie darauf besser vorbereitet wäre als auf die Masseneinwanderung muslimischer Asylsuchender im Jahre 2015. Das ist umso besorgniserregender, als die afrikanische Wanderungsbewegung ungleich größer sein wird und, erst einmal in Gang gekommen, nicht mehr zu steuern und mit Mauern und Zäunen allenfalls vorübergehend zu stoppen ist.
Europa muss jetzt gemeinsam handeln, um dieses Jahrhundertproblems Herr zu werden. Sonst passiert, was der frühere Bundespräsident Horst Köhler so formuliert hat: „Wenn der Wohlstand nicht nach Afrika kommt, dann kommt Afrika zum Wohlstand.“
Es braucht den "Marshallplan" für Afrika
An dem enormen Wohlstandsgefälle zwischen Europa und Afrika lässt sich so schnell nichts ändern. In vielen Ländern Afrikas herrschen Armut, Unterdrückung, Krieg, Arbeitslosigkeit, Korruption – jene Ursachen, die Menschen in die Flucht treiben und deren Beseitigung viel Zeit und Geld und das Mitmachen heimischer Machteliten erfordert. Aber wenn das reiche Europa die Migration in gesellschaftlich verkraftbaren Ausmaßen halten will, muss es alles daransetzen, die Lebensbedingungen in Afrika zu verbessern. Mit der Förderung privater Investitionen, mit gezielter Hilfe zur Selbsthilfe, mit fairen Handelsbedingungen. Dann bedarf es einer gewaltigen gemeinsamen Kraftanstrengung Europas – jenes „Marshallplans“ eben, den der Bundesminister Gerd Müller unermüdlich fordert. Dann muss endlich ein Gesamtkonzept her, das von wirtschaftlicher Hilfe über Aufnahmezentren in Nordafrika und legale Einreisemöglichkeiten bis hin zu einem effektiven Schutz der EU-Außengrenzen reicht.
Die afrikanische Frage wird zu einer Schicksalsfrage Europas, die weder mit strikter Abschottung noch mit offenen Grenzen zu meistern ist. Benötigt wird ein ganzes Bündel von Maßnahmen – mitsamt dem klaren Signal, dass Europa helfen will, doch seine Tore nicht einfach öffnen kann. Es wird jedenfalls höchste Zeit, dass Afrika in das Zentrum deutscher und europäischer Politik rückt.