Bunte Bilder, einfache Texte, kleine interaktive Spiele. Auf den ersten Blick wirkt die Handy-App Huruf (Buchstaben), die sich an arabisch sprechende Kinder im Grundschulalter wendet, harmlos. Mädchen und Buben sollen mit ihrer Hilfe lesen, schreiben lernen. Doch bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass die Spiele Gewalt und den Dschihad, den „Heiligen Krieg gegen Ungläubige“, verherrlichen. Viele Motive und Begriffe entspringen der militaristischen und dschihadistischen Bildsprache.
Die Frage, wie und warum junge Menschen in Europa sich radikalisieren, beschäftigt Wissenschaftler und Politik schon lange. Dabei wird schnell klar: Die oben genannte App ist kein Einzelfall. Nach Erkenntnissen der Bundeszentrale für politische Bildung und des Netzwerks jugendschutz.net, das von den zuständigen Ministerien der Länder gegründet wurde und Jugendschutzverstöße im Netz aufspürt, hat die Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) in den vergangenen Monaten gleich mehrere solcher Apps für Smartphones oder Tablet-Computer veröffentlicht. Sie richten sich gezielt an Kinder und Jugendliche und sollen sie schon frühzeitig auf den Krieg vorbereiten. Parallel wird im Internet massiv Propaganda verbreitet, die Jugendliche auch in Deutschland radikalisiert.
"Angebote sind hochprofessionell"
Diese Angebote seien „hochprofessionell und extrem jugendaffin“ gestaltet, sagt Stefan Glaser, stellvertretender Leiter von jugendschutz.net. „Mit einem perfiden Mix aus Grauen, Action und Pop-Kultur ködern Islamisten Jugendliche.“ Der Dschihad werde als „Abenteuer verklärt“, gleichzeitig rechtfertige der IS seine grausamen Taten und rufe zu Gewalt und Terror in den westlichen Ländern auf.
Festnahmen von Islamisten wegen Terrorverdachts
Immer wieder hat es in Deutschland in den vergangenen Monaten Festnahmen von mutmaßlichen Anhängern der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) gegeben:
November 2016: Fünf Verdächtige werden festgenommen, die Freiwillige für den IS in Deutschland angeworben haben sollen. Darunter ist auch der mutmaßliche Top-Islamist Abu Walaa. Dem Zugriff in Dortmund, Duisburg und in Niedersachsen gingen monatelange Ermittlungen voraus.
November: Wenige Tage zuvor nimmt die Berliner Polizei einen 27-Jährigen fest. Er soll laut Bundesanwaltschaft als IS-Mitglied einen Anschlag geplant haben. Der Haftrichter sieht dafür zwar keinen dringenden Tatverdacht, dennoch bleibt der Mann wegen Urkundenfälschung vorerst in Haft.
Oktober: Die Bundesanwaltschaft erhebt Anklage gegen einen 19-jährigen Syrer, der bereits seit März in Untersuchungshaft sitzt. Er steht in Verdacht, Anschlagziele für den IS in Berlin ausgekundschaftet zu haben.
Oktober: Der Syrer Dschaber al-Bakr wird in Sachsen festgenommen. Er soll einen Anschlag auf einen Berliner Flughafen geplant haben. Der 22-Jährige erhängt sich kurz darauf in seiner Zelle, ein mutmaßlicher Komplize kommt in Untersuchungshaft.
September: In Schleswig-Holstein nehmen Sicherheitskräfte drei Syrer wegen Terrorverdachts fest. Die Männer sollen im Auftrag des IS nach Deutschland gekommen sein.
September: Ein 16-jähriger Flüchtling aus Syrien wird in Köln festgenommen. Er soll einen Anschlag geplant haben.
August: Unter dem Vorwurf vorbereitender Absprachen zu einer Sprengstoffexplosion werden gegen einen 27-jährigen mutmaßlichen IS-Sympathisanten aus Eisenhüttenstadt (Brandenburg) und einen mutmaßlichen Komplizen Haftbefehle erlassen.
Juni: Festnahme von drei mutmaßlichen IS-Anhängern in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Brandenburg. Sie sollen einen Anschlag in Düsseldorf geplant haben. (dpa)
In Videos würden dabei gezielt Kinder als „Henker und Kämpfer“ inszeniert und sogar bei Erschießungen und Hinrichtungen gezeigt. Nach den Ereignissen in Würzburg, Ansbach oder Nizza hätten sich auf solchen Plattformen die Aufrufe zu Nachahmungstaten gehäuft.
Nach Erkenntnissen Glasers und seines Teams, die in den ersten zehn Monaten des Jahres bereits 6300 Sichtungen im Internet vorgenommen und dabei mehr als 1000 Verstöße gegen die Jugendschutzbestimmungen festgestellt haben, werden Jugendliche auch bei Facebook, Twitter oder dem Videodienst Youtube mit – in der Regel harmlosen Inhalten – angelockt. Mit nur einem Klick gelangen sie von dort auf die Chat-Plattform „Telegram“, über die massiv dschihadistische Propaganda betrieben wird. Der Dienst mit mehr als 100 Millionen Nutzern weltweit, hinter dem der Russe Pawel Durow steht, hat keinen festen Standort, sondern zieht von Stadt zu Stadt in verschiedenen Ländern und weigert sich im Gegensatz zu Facebook, Twitter oder Youtube häufig, Inhalte, die gegen Gesetze verstoßen, zu löschen.
Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, kritisiert das Verhalten von „Telegram“ scharf und spricht von einem „unhaltbaren Zustand“. Gleichzeitig appelliert er an die Politik, in den Schulen den Kampf gegen die islamistische Hasspropaganda zu verstärken. „Die Schule ist der einzige Ort, an dem wir alle Kinder erreichen.“ Nach seiner Ansicht sollte die politische Bildung deshalb bereits in der Grundschule beginnen. Bereits Dritt- und Viertklässler seien offen für die Vermittlung von Werten.
Mehr zum Thema: Großrazzia vor zwei Wochen
Mit einer Großrazzia in Bayern und neun weiteren Bundesländern ist die Polizei vor zwei Wochen gegen radikale Salafisten und mutmaßliche Unterstützer der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) vorgegangen. Hunderte Polizisten durchsuchten gut 190 Wohnungen und Büros von Organisatoren und Anhängern der Vereinigung „Die wahre Religion“, die hinter den umstrittenen und jetzt verbotenen Koran-Verteilaktionen „Lies!“ in deutschen Städten steht.
Mehr dazu lesen Sie hier, eine Übersicht über die bundesweiten Razzien sehen Sie in unserer Grafik: