NS-Prozesse fast 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg? Heute beginnt in Hagen ein Prozess wegen der Ermordung eines Widerstandskämpfers; am Dienstag stellt die NS-Fahndungsstelle in Ludwigsburg ihre Vorermittlungen zu mehr als 40 mutmaßlichen Aufsehern des KZs Auschwitz vor. Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten (VVN/BdA), in der sich einige Tausend Überlebende und Angehörige von NS-Opfern engagieren, hofft, dass es zu Prozessen kommt. "Diese Menschheitsverbrechen dürfen nicht ungesühnt bleiben und nicht vergessen werden", sagt VVN-Bundessprecher Ulrich Sander (72) aus Dortmund im dpa-Interview.
Frage: Warum werden einige NS-Täter erst heute belangt?
Die meistgesuchten Nazi-Kriegsverbrecher
Etliche Nazi-Kriegsverbrecher wurden oder werden bis in die heutige Zeit hinein gesucht.
Aribert HEIM (Ägypten) - Nach Presseberichten soll der als «Dr. Tod» berüchtigte frühere KZ-Arzt bereits 1992 im Alter von 78 Jahren in Kairo gestorben sein. Das Wiesenthal-Zentrum bezweifelt die Angaben, weil weder der Tod bestätigt noch die sterblichen Überreste gefunden worden sind. Im September 2012 erklärte ihn das Landgericht Baden-Baden aber offiziell für tot.
Alois BRUNNER (Syrien) - Der wichtigste bislang strafrechtlich nicht verfolgte Nazi-Kriegsverbrecher ist möglicherweise nicht mehr am Leben. Der ehemalige SS-Hauptsturmführer soll als «Ingenieur der Endlösung» für den Tod von etwa 130 000 Juden aus mehreren Ländern verantwortlich sein. Brunner wurde zuletzt 2001 in Damaskus gesehen.
Michail GORSCHKOW (Estland) - Laut Wiesenthal-Zentrum diente er der Gestapo als Übersetzer und war am Massenmord von Juden in Weißrussland beteiligt.
Algimantas DAILIDE (Deutschland) - Er soll Juden festgenommen haben, die später von Nationalsozialisten getötet wurden. Von den USA ausgeliefert, wurde er in Litauen verurteilt, musste seine Haft aber wegen seines Gesundheitszustands nicht antreten und lebt heute in Sachsen.
Ivan (John) KALYMON (USA) - Der gebürtige Ukrainer hat für die deutschen Besatzer in der Ukraine als Hilfspolizist gearbeitet und soll an der Deportation und Ermordung von Juden beteiligt gewesen sein. Er lebt im US-Bundesstaat Michigan.
Soeren KAM (Deutschland) - Ehemaliges SS-Mitglied, wird beschuldigt, für den Tod eines dänischen Journalisten verantwortlich zu sein. Kam soll das Einwohnerverzeichnis der jüdischen Gemeinde in Dänemark gestohlen und damit die Deportation von dänischen Juden in deutsche Konzentrationslager ermöglicht haben. Dänemark hat 1999 die Ausweisung beantragt.
Karoly (Charles) ZENTAI (Australien) - Nahm 1944 an der Verfolgung und dem Mord an Juden in Budapest teil. Ungarn hat 2005 die Auslieferung beantragt. Zentais letzter Einspruch wird derzeit vor Gericht in Perth verhandelt.
Adam NAGORNY (Deutschland) - Als Wärter im Konzentrationslager Treblinka soll er mehrere Gefangene erschossen haben. Die Münchner Staatsanwaltschaft hat zu Beginn des Jahres Ermittlungen aufgenommen.
Gerhard SOMMER (Deutschland) - Der frühere SS-Untersturmführer soll 1944 an einem Massaker mit 560 Toten in der toskanischen Gemeinde Sant'Anna di Stazzema beteiligt gewesen sein. Im Juni 2005 war er von einem italienischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt worden.
Klaas Carl FABER (Deutschland) - In den Niederlanden für den Tod von Gefangenen im Transitlager Westerbork und dem Gefängnis von Groningen 1944 zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde 1948 in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt. Flucht aus dem Gefängnis 1952. Im Mai 2012 gestorben.
Milivoj ASNER (Österreich) - Der ehemalige Polizeichef in Kroatien soll an der Verfolgung und Deportation von Serben, Juden sowie Sinti und Roma beteiligt gewesen sein.
Antwort: Der jahrelange Streit über die Verjährung von Mord, die erst 1979 ganz abgeschafft wurde, hat dazu geführt, dass NS-Täter lange unbehelligt blieben. In Deutschland hat sich im Gegensatz zu den Nürnberger Prozessen die Meinung durchgesetzt, den NS-Tätern müsse die individuelle Schuld nachgewiesen werden. Dass das so kommen konnte, liegt an dem Fortleben der NS-Justiz in der Bundesrepublik. Ein mutiger Richter in München hat 2011 das jahrzehntelange Paradigma gebrochen und den Sobibor-Aufseher John Demjanjuk rein nach Aktenlage verurteilt. Damit hat er den Weg frei auch für andere ähnliche Fälle gemacht, die schon zu den Akten gelegt worden waren.
Frage: Warum sollten NS-Täter auch ohne den Nachweis individueller Schuld verurteilt werden können?
Antwort: Wer in einem Konzentrationslager arbeitete, wusste, dass er Teil einer Tötungsmaschinerie war. Davor konnte niemand die Augen verschließen.
Frage: Welche Hoffnungen verbinden Sie mit dem Aufrollen der Fälle?
Antwort: Wir hoffen auf Gerechtigkeit. Ganz konkret wünsche ich mir, dass Anklage gegen die Täter erhoben wird und sie bestraft werden - egal ob sie nachher haftfähig sind oder nicht. Für mich als Sohn eines Mannes, der als junger linker Widerstandskämpfer von den Nazis grausam verfolgt wurde, wäre es ein Zeichen der Gerechtigkeit und der Mahnung, NS-Verbrechen auch jetzt noch gesühnt zu sehen.
Frage: Welches Signal könnte von der juristischen Aufarbeitung der Fälle ausgehen?
Antwort: Wir müssen für die Zukunft klarstellen, dass solche Verbrechen immer geahndet werden, dass Mörder niemals davonkommen. Insofern können Verurteilungen als Abschreckung dienen. Es tut mir weh zu sehen, dass Neonazis heute noch versuchen, die Taten von NS-Verbrechern zu verharmlosen.
Frage: Wenn es zu Prozessen kommt, werden Sie hingehen?
Antwort: Nein, das glaube ich nicht. Ich beschäftige mich viel mit dem Thema, eine Begegnung mit den Tätern ist aber etwas anderes. Ich träume jetzt schon von jenem Mord-System. Das möchte ich nicht noch verstärken. Allerdings könnte ich mir eine Betreuung und Begleitung noch älterer Zeugen vorstellen.