So viele Anschläge, so viele Tote. Vor einer Woche das Bombenattentat in Manchester, im April ein Attentat in Stockholm, im März eines in London, im Dezember der Anschlag auf einem Berliner Weihnachtsmarkt. Die Opferzahlen sind gewaltig, so hoch wie nie. Oder trügt das Gefühl?
Bei den Einordnungen kann ein Blick auf die Zahlen helfen, doch dieser Blick ist trügerisch. Zahlen sammelt etwa die Datenbank "Global Terrorism Database", die von einem Konsortium zur Terrorismusforschung der University of Maryland betrieben wird. Mehr als 150.000 Anschläge sind dort erfasst. Die Zahlen zeigen: Nie zuvor gab es auf der Welt so viel Anschläge und so viele Terrortote wie im Jahr 2014. Die Zahlen von 1993 fehlen, Daten aus der Zeit vor 1970 sind nicht erfasst. Die globalen Daten für das Jahr 2016 sind noch nicht ausgewertet.
Die Statistiken sind mit Vorsicht zu genießen
Für Westeuropa zeigt die Datenbank einen anderen Trend als in der weltweiten Statistik: In den beiden vergangenen Jahren kamen jeweils an die 150 Menschen bei Anschlägen in Westeuropa ums Leben. In der Vergangenheit waren die Zahlen der Todesopfer teilweise viel höher. Den negativen Höhepunkt erlebte Westeuropa im Jahr 1988: 440 Menschen starben. Allein 270 fielen dem Anschlag auf Passagiere eines Flugzeugs über dem schottischen Lockerbie zum Opfer.
Gerade die weltweite Statistik ist mit Vorsicht zu genießen, warnt der Politikwissenschaftler und Terrorismusforscher Alexander Spencer, Vertretungsprofessor für Internationale Beziehungen an der Uni Magdeburg. Die Datenbank speist sich aus Medienquellen, was zwei Probleme birgt: "Es kann sein, dass über einen Anschlag nicht berichtet wurde - oder einfach nur nicht auf Englisch." Wird etwas auf Deutsch oder Französisch berichtet, kann es womöglich noch erfasst werden. Gibt es lediglich Nachrichten in einem seltenen afrikanischen Dialekt, gilt das womöglich nicht mehr.
Chronologie: Terrorismus in Europa
London, Paris, Brüssel, Berlin, Manchester. Europäische Metropolen sind in den vergangenen Jahren immer stärker ins Fadenkreuz von Terroristen gerückt. Ein Rückblick:
MANCHESTER - 22. April 2017: Nach dem Konzert eines Teenie-Idols sprengt sich ein Selbstmordattentäter im Eingangsbereich der Veranstaltungshalle in die Luft und tötet 22 Menschen, darunter sieben Kinder und Jugendliche sowie Eltern, die ihre Kinder vom Konzert abholen wollten. 116 weitere Menschen wurden verletzt.
STOCKHOLM - 7. April 2017: Ein gekaperter Lastwagen rast in einer Einkaufsstraße erst in eine Menschenmenge und dann in ein Kaufhaus. Fünf Menschen werden getötet, 15 verletzt. Noch am selben Tag nimmt die Polizei einen 39-jährigen Usbeken unter Terrorverdacht fest.
LONDON - 22. März 2017: Ein Attentäter steuert ein Auto absichtlich in Fußgänger auf einer Brücke im Zentrum Londons und ersticht anschließend einen Polizisten. Von den Opfern auf der Brücke erliegen vier ihren Verletzungen. Sicherheitskräfte erschießen den Täter.
PARIS - Februar/März 2017: Auf dem Flughafen Orly versucht ein Mann, einer patrouillierenden Soldatin das Gewehr zu entreißen, und wird erschossen. Erst Anfang Februar war nahe dem Louvre-Museum ein Ägypter niedergeschossen worden, der sich mit Macheten auf eine Militärpatrouille gestürzt hatte.
BERLIN - Dezember 2016: Kurz vor Weihnachten wird die Hauptstadt zum Ziel eines Terroranschlags. Zwölf Menschen kommen um, als ein Anhänger der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) einen gekaperten Lkw in einen Weihnachtsmarkt steuert. Wenige Tage später wird der 24 Jahre alte Tunesier bei einer Polizeikontrolle nahe Mailand erschossen.
NIZZA - Juli 2016: Ein Attentäter rast mit einem Lastwagen auf der Strandboulevard in eine Menschenmenge. Mindestens 86 Menschen sterben. Der IS ist nach Angaben seines Verlautbarungsorgans Amak für den Anschlag verantwortlich.
BRÜSSEL - März 2016: Mit mehreren Bomben töten islamistische Attentäter am Flughafen der belgischen Hauptstadt und in einer Metrostation 32 Menschen.
ISTANBUL - Januar 2016: Ein Selbstmordattentäter des IS zündet im historischen Zentrum mitten in einer deutschen Reisegruppe eine Bombe und reißt zwölf Deutsche mit in den Tod.
PARIS - November 2015: Bei einer koordinierten Anschlagsserie am Stade de France, mehreren Restaurants und dem Musikklub «Bataclan» töten IS-Anhänger 130 Menschen, Hunderte werden verletzt.
KOPENHAGEN - Februar 2015: Ein arabischstämmiger 22-Jähriger feuert auf ein Kulturcafé, ein Mann stirbt. Vor einer Synagoge erschießt der Attentäter einen Wachmann, bevor ihn Polizeikugeln tödlich treffen.
PARIS - Januar 2015: Bei einem Attentat auf das Satiremagazin «Charlie Hebdo» und einen koscheren Supermarkt sterben 17 Menschen. Die beiden Täter kommen später bei einer Polizeiaktion ums Leben. Zu dem Anschlag bekennt sich die Terrororganisation Al-Kaida.
BRÜSSEL - Mai 2014: Im Jüdischen Museum erschießt ein französischer Islamist vier Menschen. Kurz darauf wird er festgenommen. Als selbst ernannter «Gotteskrieger» hatte er zuvor in Syrien gekämpft.
LONDON - Juli 2005: Vier Muslime mit britischem Pass zünden in der U-Bahn und einem Bus Sprengsätze. 56 Menschen sterben, etwa 700 werden verletzt.
MADRID - März 2004: Bei islamistisch motivierten Bombenanschlägen auf Pendlerzüge sterben in der spanischen Hauptstadt 191 Menschen, rund 1500 werden verletzt. (dpa)
Erst das Internet hat es ermöglicht, Ereignisse aus der ganzen Welt beobachten zu können. Manche Regionen spielten für die Berichterstattung keine Rolle, manche tun es womöglich heute noch nicht. In Westeuropa dürften die Zahlen näher an der Realität sein, doch auch hier bleiben Zweifel. Wurde wirklich alles öffentlich bekannt, was beispielsweise in der spanischen Franco-Diktatur geschah?
Was gilt als Anschlag, was nicht?
Und was ist überhaupt ein Terroranschlag? Spencer nennt ein Beispiel: "Ist ein Brandanschlag mit einem Molotow-Cocktail auf eine Bank in Griechenland ein Anschlag?" Die Datenbank fasst solche und ähnliche Angriffe und wertet sie als Terroranschläge. Doch ist das in jedem Fall dieser Art geschehen? Darüber lässt sich nur spekulieren. Das gleiche gilt für Bürgerkriege, auch hier nennt Spencer ein Beispiel: "Ist ein Anschlag gegen die irakische Regierung ein Terroranschlag oder Teil eines Aufstands?" In den Bürgerkriegsregionen, also beispielsweise in Syrien, im Irak oder in Afghanistan, werden heute die meisten und die schwerwiegendsten Anschläge begangen.
Vorsicht gilt auch bei den Anschlagszahlen. Wenn ein Flugzeug in einen Turm des World Trade Centers fliegt, gilt das als terroristischer Anschlag. Wenn korsische Separatisten eine Bombe zünden, durch die niemand verletzt wird, auch. Die Angriffe sind also in vielen Fällen nicht vergleichbar.
Beide Grafiken, die zu Anschlägen und Opfern weltweit und jene zu Anschlägen und Opfern in Westeuropa, zeigen Ausschläge nach oben. In Westeuropa sind es beispielsweise die Jahre 1972, 1974, 1980, 1988, 2004 und 2011. Gerade in den Siebziger und Achtziger Jahren spielte der politische Terrorismus eine bedeutende Rolle: RAF, Rote Brigaden, IRA, ETA.
Das Risiko eines Anschlags ist niedrig
In einigen dieser Jahre wurde Anschläge von besonderem Ausmaß begangen. Zum Beispiel jener von Lockerbie 1988, jener in Madrider Pendlerzügen 2004 oder die Angriffe durch Anders Breivik in Norwegen 2011. Eine eindeutige Interpretation lassen die Zahlen aber nicht zu. Denn es gibt viele mögliche Erklärungen dafür, manche sind gegensätzlich: "Mal befindet sich eine Terrororganisation im Aufwind, mal ist es ein letztes Aufbäumen", sagte Terrorismusforscher Spencer.
Die größten Ängste der Deutschen
8. Krieg mit deutscher Beteiligung (54 Prozent, plus 13 Prozent) und Steigende Lebenshaltungskosten (54 Prozent, plus 6 Prozent)
7. schwere Erkrankung (55 Prozent, plus 8 Prozent)
6. Pflegefall im Alter (57 Prozent, plus 8 Prozent)
5. Überforderung der Politiker (65 Prozent, plus 17 Prozent) und Kosten für Steuerzahler durch Schuldenkrise von EU-Staaten (65 Prozent, plus 1 Prozent)
4. Überforderung von Deutschen und Behörden durch Flüchtlinge (66 Prozent, plus 16 Prozent)
3. Spannungen durch den Zuzug von Ausländern (67 Prozent, plus 18 Prozent)
2. Politischer Extremismus (68 Prozent, plus 19 Prozent)
1. Terrorismus (davor haben 73 Prozent der Befragten Angst. Im Vergleich zum Vorjahr ist das ein Plus von 21 Prozent)
Eins hebt Spencer bei allen Zahlen und Entwicklungen hervor: "Die Angst vor Anschlägen ist wie Lottospielen, nur umgekehrt." Das Risiko, Opfer eines Anschlags zu werden, ist nicht so groß wie die Angst, die durch die Attentate hervorgerufen wird. "Die Chancen sind größer, von einer Leiter zu fallen und sich das Genick zu brechen", sagt Spencer.