Das Letzte, was er sieht, sind Vermummte. Sie tragen Mundschutz, Hauben und Gummihandschuhe. Sie schnallen ihm Arme und Beine fest. Sie ziehen ihm das grüne Tuch über den Kopf. In seiner Erinnerung verlangt er benommen: „Ich möchte eine Narkose.“ Eine gereizte Stimme über dem grünen Tuch antwortet: „Sie bekommen gleich was.“
So beginnt die unglaubliche Geschichte des 46 Jahre alten Reinhold Bronold. Keine Geschichte hat er in den vergangenen fünf Jahren häufiger erzählt, keine Situation häufiger durchleben müssen. Immer und immer wieder überfällt ihn die Erinnerung.
Traumatische Erfahrung immer wieder durchleben
Trotzdem fängt er an zu schreien, sein Gesicht ist verzerrt, die Arme rudern, als würde er sich wehren. „Und dann waren da nur noch Schmerzen, Schmerzen, Druck, Schmerzen.“ Jetzt hat der große, kräftige Mann Tränen in den Augen. „Ich habe nicht mal schreien können. Dann habe ich Blut geschmeckt.“ Bevor er das Bewusstsein verlor, habe jemand gerufen: „Es blutet, es blutet.“ So schildert er es noch fünf Jahre danach: „Ich habe gedacht, die bringen mich jetzt um!“
Dann wird Bronold wieder ruhiger. Für ihn ist klar, dass er Opfer eines ärztlichen Behandlungsfehlers geworden ist oder, wie er es nennt, eines „Ärztepfuschs“. Er sammelt Beweis um Beweis, Gutachten um Gutachten, die belegen sollen, dass bei der Operation am 14. Juni 2007 im Klinikum Straubing etwas schiefgegangen ist. Doch das nachzuweisen, ist nicht einfach. „Ich jage seit fünf Jahren ein Phantom“, sagt er.
2011 wurden in Bayern 530 Behandlungsfehler anerkannt
Rund 530 Mal wurden Patienten im vergangenen Jahr in Bayern falsch behandelt. Diese Zahl hat der Medizinische Dienst der Krankenkassen veröffentlicht. Das sind allerdings nur die anerkannten Fälle. Die Bundesregierung teilte Anfang des Jahres auf Anfrage der Grünen mit, dass die Zahl der offiziell bekannt gewordenen Todesfälle durch Behandlungsfehler, Hygienemängel und fehlerhafte Medizinprodukte in Deutschland in einem Jahr um mehr als 25 Prozent gestiegen ist.
Medizinische Kunstfehler - dramatische Folgen
Gut ein Jahr nach dem Tod der 23-jährigen Pornodarstellerin «Sexy Cora» bei einer Schönheitsoperation erhebt die Hamburger Staatsanwaltschaft Anklage gegen die Narkoseärztin. Sie habe während der Brustvergrößerung nicht für ausreichende Beatmung gesorgt, was zum Herzstillstand führte. Die Reanimationsmaßnahmen seien nicht fachgerecht gewesen.
Ein früherer Chefarzt und Klinikbesitzer aus NRW, der die Wunden frisch operierter Patienten mit Zitronensaft desinfiziert hatte, wird wegen Körperverletzung und fahrlässiger Tötung im März 2011 zu vier Jahren Haft verurteilt. Außerdem hatte er gesunde Organe entnommen.
Ein mehrfach vorbestrafter Schönheitschirurg muss 2005 für sechseinhalb Jahre in Haft. Aus Sicht des Landgerichts Nürnberg-Fürth hatte er Frauen nicht kunstgerecht und mit mangelnder Hygiene operiert. Nach dem Tod einer Patientin war der Arzt in Sachsen-Anhalt zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden. Nach der Haft verlegte er seine Praxis nach Nürnberg.
Sechs Jahre nach dem Tod einer Patientin wird ein Klinikchef aus Bayern 2005 wegen Totschlags und Körperverletzung zu drei Jahren Haft verurteilt. Bei der Herz-OP der 55-Jährigen wurde eine Schlagader verletzt. Dennoch kam die Frau erst Stunden später in eine größere Klinik. Grund für die Verzögerung waren laut Landgericht Regensburg persönliche Differenzen mit einer konkurrierenden Klinik.
Der Chefarzt eines Krankenhaus in Baden-Württemberg vergisst ein Operationsbesteck im Bauch einer Patientin. Das 30 Zentimeter lange Instrument wird erst neun Monate später auf einer Röntgenaufnahme entdeckt. Der Mediziner wird 1999 für seinen Fehler zu einer Geldstrafe von 24 000 Mark (rund 12 300 Euro) verurteilt.
Laut der Statistik wurden im Jahr 2010 insgesamt 1712 solcher Todesfälle registriert – 440 mehr als 2009. Allerdings sind solche Zahlen immer mit Vorsicht zu genießen. Auf der Homepage des Gesundheitsministeriums heißt es deshalb: „Die Zahl der Behandlungsfehler lässt sich nur schätzen. Die Annahmen reichen von 40 000 bis 170 000 Behandlungsfehlern jährlich.“ Viele Fälle werden nie erfasst.
Neues Gesetzt soll Patientenrechte stärken, aber Experten zweifeln
Das deutsche Gesetz bot Betroffenen wenig, um sich gegen Ärzte und Kliniken durchzusetzen. Bislang fanden sich entsprechende Rechtsbestimmungen unter anderem im Grundgesetz, im Berufsrecht, im Bürgerlichen Gesetzbuch und im Sozialgesetzbuch.
Das neue, im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) festgeschriebene Patientenrechtegesetz soll diese bündeln. Und es soll die Rechte der Patienten stärken. Ewald Kraus, erster Vorsitzender der Notgemeinschaft Medizingeschädigter, zweifelt daran: „Es wird sich überhaupt nichts für Patienten, die einen Behandlungsfehler zu beweisen haben, zum Besseren ändern.“
Gericht entscheidet, was ein grober Fehler ist
Kraus betreut Menschen, die vermuten, Opfer eines Ärztefehlers geworden zu sein. Er berät und er vermittelt Kontakte zu unabhängigen Anwälten und Gutachtern. Die Patientenverbände kritisieren das neue Gesetz. Der Vorwurf: Es fasse lediglich gängige Rechtsprechung zusammen und bleibe in den entscheidenden Punkten zu ungenau.
Beispiel Beweislastumkehr: Die Beweislast lag bislang beim Patienten. Hat der Arzt etwas falsch gemacht, musste der Patient es ihm nachweisen. Für den medizinischen Laien ist das schwierig. Stellte das Gericht eine grobe Fahrlässigkeit fest, ging die Beweislast auf den Behandelnden über: Genauso ist es nun verankert.
Was ein grober Fehler ist, entscheidet nach wie vor das Gericht, beraten durch einen Sachverständigen.
Anwalt beklagt Verzögerungstaktik der Kliniken
Beispiel Aufklärung: Die Vorgabe, dass Ärzte ihre Patienten über Behandlungen verständlich und umfassend informieren müssen, ist nicht neu. Das war, so Kraus, ebenfalls längst Usus.
Das Problem bei medizinischen Haftungsfällen ist, dass sie fachlich anspruchsvoll sind und der Streit darüber sich lange hinzieht. Daran kann das Gesetz nicht viel ändern. Anwalt Jörg Michael Forster, der Reinhold Bronold vertritt, kennt das Warten, die Verzögerungstaktik der Kliniken und die Langsamkeit der Gerichte nur zu gut.
Oftmals jedoch scheuten sich die Juristen einfach davor, sich solch komplizierter Sachverhalte anzunehmen. Tausende von Seiten komplexer Gutachten müssten gewälzt werden.
Patient und Anwalt sammeln seit Jahren Beweise
Wie für ein Puzzle sammeln Reinhold Bronold und sein Anwalt Forster für den Zivilprozess Gutachten um Gutachten, Beweis um Beweis. Sie vergleichen Angaben der Behandlungs-Dokumentation mit gängigen medizinischen Verfahren und versuchen, zu rekonstruieren, was Bronold im Juni 2007 im Klinikum Straubing widerfahren ist.
Eigentlich war es eine Routine-Untersuchung: eine Leberbiopsie. Dabei wird ein Stück der Leber entnommen, um es im Labor untersuchen zu können. Anlass war, dass ein Arzt einen Leberschaden bei Bronold vermutete. Denn er musste wegen eines Bandscheibenvorfalls starke Medikamente nehmen. Weil der 46-Jährige Bluter ist, schlug ihm die Klinik diese Art Leberuntersuchung vor.
Starke Atembeschwerden, Schmerzen und Albträume
Doch nach der OP, die – so haben es mehrere Gutachter geschrieben –, unnötig war, ist nichts mehr wie zuvor. Reinhold Bronold leidet seitdem unter starken Atembeschwerden. Seine Zunge und seine Stimmbänder sind angegriffen von der Magensäure, die nach oben sprudelt. Er ist ständig heiser. Oft hat er Schmerzen im Unterbauch und der Brust.
Fest steht auch, dass er in den fünf Tagen nach seiner Operation durch Computertomografien und Röntgenaufnahmen eine große Menge an Strahlung abbekommen hat: Eine der wenigen Dinge, die aus der offensichtlich lückenhaften Behandlungs-Dokumentation der Klinik herauszulesen sind.
Wieso er so oft geröntgt wurde und warum er all seine Beschwerden hat, muss er mühsam selbst herausfinden.
Seit der Operation arbeitsunfähig und in psychiatrischer Behandlung
Das Schlimmste aber ist die posttraumatische Angststörung. Reinhold Bronold kann nicht mehr arbeiten, er traut sich nicht mehr allein vor die Tür. Er kann nicht mehr ruhig schlafen. Jede Nacht träumt er von der Operation. Immer wieder ziehen Vermummte das grüne Tuch über seinen Kopf. Immer wieder spürt er den Druck in seiner Brust, immer wieder hat er Todesangst.
Zuletzt, so berichtet er, habe er sich im Traum selbst auf dem OP-Tisch liegen sehen. Die Vermummten schneiden seinen Bauch auf, wühlen in seinen Gedärmen, entnehmen ihm Beweise, vernichten sie und lachen über ihn. Dann hyperventiliert Bronold, atmet schwer, schwitzt, schreit. Seine Frau weckt ihn.
Dann steht er auf und blättert in den Ordnern mit den Gutachten, Akten, Röntgenbildern, um langsam wieder zu sich zu kommen. Bronold befindet sich in Therapie und muss Psychopharmaka nehmen. Während er erzählt, ist er in sich zusammengesunken. „Die Ungewissheit ist schrecklich“, sagt er.
Klinik geizt mit Informationen
Die Klinik gibt die Informationen zu den Vorfällen im Juni 2007 nur sehr zaghaft heraus. Jüngst nannte die Klinik die Namen von drei Oberärzten, einer Assistenzärztin und einer Krankenschwester, die bei der Operation anwesend gewesen sein sollen.
Aus der Behandlungs-Dokumentation jedenfalls ist nicht ersichtlich, wer behandelt hat. Die Dokumentation ist ein weiterer Punkt des neuen Gesetzes. Sie muss sorgfältig geführt werden. Therapieschritte, die nicht aufgezeichnet sind, gelten als nicht durchgeführt.
In Bezug auf die Klinik-Dokumentation von Reinhold Bronold sprechen er und sein Anwalt gar von Fälschung. Zum Beispiel gibt es Ungereimtheiten bei den Röntgenbildern. Entweder sie sind verschwunden oder gehören nicht zu Bronold. Die Aufnahme eines Brustkorbs findet sich in seinen Unterlagen. Sie zeigen einen Brustkorb, der mit Klammern fixiert ist. Er kann nicht von Reinhold Bronold stammen.
Eigenes Versagen zuzugeben beschädigt den Ruf der Klinik
Das, so Ewald Kraus von der Notgemeinschaft Medizingeschädigter, ist kein Einzelfall. Immer wieder müssen sich Kliniken und Ärzte den Vorwurf des Betrugs gefallen lassen. Den Fehler einzugestehen, ist für die meisten unmöglich. „Die Versicherungen machen Druck auf Mediziner und Kliniken.“ Eigenes Versagen zuzugeben, bedeute zu viel Imageschaden für ein Krankenhaus.
Das Klinikum Straubing weist die Vorwürfe zurück. Geschäftsführer und Arzt Christoph Scheu sagt zu den Anschuldigungen: „Bisher hat sich an den Behauptungen, die von Herrn Bronold aufgestellt worden sind, nichts substantiviert. Und auch den im Verfahren noch nicht behandelten Behauptungen widersprechen wir heftig.“
Gerichtsverhandlung steht bevor
Bronold will trotzdem nicht aufgeben. „Ich habe nichts mehr zu verlieren!“ Er will wissen, was passiert ist. Der 46-Jährige hat sich eingelesen. Er benutzt Fachbegriffe. Er weiß inzwischen genau, wie eine Leberbiopsie gemacht werden muss: Lachgas wird in den Körper eingeleitet, damit sich die Bauchdecke hebt. Dann ist die Leber zugänglich. Eine Probe kann entnommen werden.
Bei Bronold wurde offenbar das Zwerchfell durchstochen, es riss, das Gas strömte in seinen Brustkorb, sodass seine Lunge kollabierte. So zeichnen andere Ärzte das Szenario im Juni 2007. Das könne die Ursache für den Druck auf der Brust gewesen sein. So erklären Gutachter die Atembeschwerden, unter denen der 46-Jährige leidet.
Auf eigene Rechnung lässt sich Bronold ein ums andere Mal untersuchen, lässt Gutachten erstellen. Nach fünfeinhalb Jahren hat er am 10. Januar den ersten Gerichtstermin am Landgericht Regensburg. Wie es ausgehen wird, ist ungewiss, ebenso, ob das neue Gesetz hilfreich für ihn sein wird. Er hofft, zu klären, was ihm zugestoßen ist. „Ich will wissen, wer dieses Phantom ist, das mir das angetan hat“, sagt er. Er möchte endlich vergessen können.