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Konflikt in Türkei: Mustafa Kemal Atatürk: Erdogans Vor- und Feindbild

Konflikt in Türkei

Mustafa Kemal Atatürk: Erdogans Vor- und Feindbild

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    Eine türkische Nationalgalerie in Votivteppichen: Was trennt, was eint Staatsgründer Atatürk (Mitte) und den heutigen Präsidenten?
    Eine türkische Nationalgalerie in Votivteppichen: Was trennt, was eint Staatsgründer Atatürk (Mitte) und den heutigen Präsidenten? Foto: Ozan Kose, afp

    Es gibt da diese Szene aus dem Leben des noch sehr jungen Mustafa, die so perfekt zu dem passt, was danach kommen sollte, dass es schon nach Legende riecht. Aus einfachen Verhältnissen stammend, der Vater war Zollbeamter und Holzhändler, drängte ihn die Mutter in die Koranschule. Doch schon, als es darum ging, sich vor Gott, Prophet, Imam oder Heiliger Schrift zu verneigen, zeigte sich, dass hier Unvereinbares aufeinandertraf. Er, der Knabe Mustafa, mache sich vor nichts und niemandem krumm. Also wechselte er auf eine Privatschule nach westlichem Vorbild im späteren Thessaloniki, damals noch eine Metropole des Osmanischen Reiches. (Wer sich dieses Leben romanhaft mitreißend schildern lassen will, dem sei Louis de Bernières’ „Traum aus Stein und Federn“ sehr empfohlen.)

    Atatürk der Kriegsheld, der seine Heimat aus religiöser Prägung befreien wollte

    Aus diesem so eigensinnigen wie selbstbewussten Jungen sollte später, von einem Lehrer zunächst mit dem Beinamen Kemal (Vollendung) geadelt, ein Soldat werden, der das Leben mit unverhüllten Frauen und Alkohol genoss; ein Kriegsheld, der seine Heimat aus der religiösen Prägung befreien wollte; ein Stratege, der geduldig und entschlossen auf den Moment wartete, an dem er dann in größter Staatsnot die Macht übernehmen konnte; und schließlich im Jahr 1934, da war er 53, wurde er Mustafa Kemal „Atatük“, „Vater der Türken“, Erbauer einer Nation. Für das kulturelle Leben dieses Volkes sollte es nur ein Vorbild geben: Europa! Noch heute, da ein anderer Erneuerer das Land regiert, sind die Türken Jahr für Jahr am 10. November um 9.05 Uhr im feierlichen Gedenken an Kemals Tod im Jahr 1938 vereint. Und noch heute thront hinter und über dem Präsidenten, jetzt Recep Tayyip Erdogan, bei Pressekonferenzen, Parteitagen und Staatsbesuchen zumeist ein Gemälde von diesem Mustafa.

    Tatsächlich war der Vater der Nation für den frühen, noch liberal auftretenden Erdogan ein Vorbild. Inzwischen ist das Verhältnis aber so zwiespältig, dass sich an der Bruchlinie viel mehr ablesen lässt. Am augenfälligsten ist der Gegensatz zwischen den beiden geworden. Herzensangelegenheit Atatürks nämlich war die Säkularisierung des Landes. Die an den Lehren der Französischen Revolution geschulte Trennung von Staat und Kirche, Glaube und Macht, der Laizismus, wurde zu einem der sechs Leitprinzipien, einem der „sechs Pfeile des Kemalismus“.

    Entschleierung, Scheidungsrecht, Wahlrecht

    Als Präsident beendete er zudem im Zuge des „Republikanismus“ zunächst das Sultanat und dann das Kalifat, um so auch die alten, verfilzten Eliten abzulösen und einen „Populismus“ im Sinne der Herrschaft des Volkes zu ermöglichen. Einmal mehr nach dem europäischen Vorbild der Steuerpolitik wurde der Staat zum lenkenden Förderer der Wirtschaft („Etatismus“). Für das Alltagsleben galt als Abbild der aufgelösten religiösen Ordnung der „Modernismus“, der den Männern das Tragen des osmanischen Fez verbot und die Emanzipation der Frauen vorantrieb: Entschleierung, Scheidungsrecht, Wahlrecht. Auch die Schulen wurden weiter verwestlicht, bis hin zur Einführung der lateinischen Schrift. Alles in allem ein Projekt, das als Revolution der Erneuerung verstetigt werden sollte.

    Dem steht Erdogan heute mit seinem Rückbau des säkularen Staates geradezu feindlich gegenüber. Seine Erneuerung ist eine, die gerade auf Glauben und Kirche als Säulen seiner Regierungsmacht baut. Und selbst im kemalistischen Prinzip des Nationalismus trennt die beiden mehr, als sie eint. Atatürk als Staatsgründer hatte den Nationalismus zur Bildung einer gemeinsamen Identität nach innen forciert – gerade als Gegenprojekt zum Islam und den damit im Anspruch grenzenlosen Vielvölkerstaat. Erdogans Türkentum in Zeiten der Globalisierung ist dagegen über das Vehikel der Religion ein stark außenpolitisch orientiertes. Die Türkei soll bis 2023, 100 Jahre nach der Gründung durch Atatürk, zur Führungsmacht eines neuen Osmanischen Reiches werden. Mehr Gegensatz geht kaum.

    Vorbild für den heutigen Präsidenten bleibt Atatürk dennoch. Nicht mehr programmatisch, aber machtpolitisch. Wer Mustafa Kemal aufgrund seiner europäischen Ausrichtung nämlich für einen Demokraten hält, wird durch Biografien eines Anderen belehrt. Er wollte die Erneuerung seines Landes nach seinen Vorstellungen, duldete höchstens Ratschläge, aber keinen Widerspruch. Opposition ließ er immer nur kurzzeitig zu, um sich dann den nächsten Anlass zum Aufräumen zunutze zu machen. Besonders radikal übrigens nach einem Putschversuch. So formte der Autokrat Atatürk das Land nach seinem Bilde.

    Das beobachtete auch im zuvor noch verbündeten Deutschland ein Mann mit großem Interesse. Es war laut dessen Biografen Joachim Fest: Adolf Hitler. Atatürk selbst blieb immer betont auf Abstand zu ihm, nicht wenige deutsche Dissidenten erhielten Zuflucht in der Türkei. Aber wer lernen wollte, wie Machtübernahme und Umgestaltung eines Landes durch den Willen und im Sinne eines einzelnen Mannes gelingen konnte, der lernte es hier. Man darf wohl davon ausgehen: Recep Tayyip Erdogan kennt diese Geschichte genau.

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