Ganz geheuer scheint Lassana Bathily das Etikett „Held von Vincennes“ nicht zu sein, das man ihm jetzt anheftet. Der 24-jährige Mann aus Mali ist kein Typ, der sich in den Vordergrund drängt. In seinen Augen hat er nur getan, was er in dieser so stressigen Situation für richtig hielt. Er hat sechs Menschen vor der unmittelbaren Bedrohung durch einen Islamisten namens Amedy Coulibaly in Sicherheit gebracht. Kurzum: Er hat ihnen wahrscheinlich das Leben gerettet.
Es war am Freitag, als 80 Kilometer nordöstlich von Paris die Jagd auf die Attentäter von Charlie Hebdo endete. Und am östlichen Rand der Hauptstadt, an den der Vorort Vincennes grenzt, Coulibaly schwer bewaffnet einen koscheren Supermarkt überfiel und stundenlang seine Geiseln terrorisierte. Vier Männer erschoss der Terrorist, der sich auf die Organisation Islamischer Staat (IS) berief. Bathily hat vielleicht dazu beigetragen, dass es nicht noch mehr Opfer gab.
Seit vier Jahren ist er Lagerarbeiter in dem Lebensmittelgeschäft.
So hat Lassana Bathily die Geiselnahme erlebt
Gerade seine bescheidene Zurückhaltung bringt dem jungen Mann wohl so viele Sympathien ein. So erzählt er, wie er die Geiselnahme erlebt hat, die sich zwei Tage nach dem Terror-Anschlag der Brüder Chérif und Saïd Kouachi auf die Redaktion des Satire-Magazins Charlie Hebdo ereignete. Bathily spricht schnell und mit so starkem Akzent, dass die französischen Fernsehsender Untertitel einblenden. „Ich war gerade dabei, Tiefkühlware einzusortieren, als ich Schüsse gehört habe. Dann kamen Leute vom Laden oben die Treppe herunter, sie riefen in Panik: Da oben schießt ein bewaffneter Irrer um sich. Ich habe ihnen gesagt, dass sie sich beruhigen sollen.“
Geistesgegenwärtig öffnet er die Tür zum Kühlraum, um die Menschen darin zu verstecken, er schaltet die Kühlung und das Licht aus. Kurz darauf überbringt eine andere Kollegin Coulibalys Aufforderung: Alle sollen hochkommen - sonst erschieße er die Leute oben. Drei der Kunden folgen ihr, sechs bleiben im Kühlraum. Unter ihnen ist auch ein Baby.
Vergeblich versucht Lassana Bathily, sie davon zu überzeugen, mit ihm über den Lastenaufzug zu entkommen. „Sie hatten Angst, dass das zu viel Lärm macht. Ich wollte sie nicht zwingen. Also habe ich das Risiko alleine auf mich genommen. Wenn er mich gesehen hätte, wäre ich jetzt tot.“ Er wagt es trotzdem, um der Polizei Informationen von drinnen zu überbringen.
"Wir sind Brüder. Wir sitzen alle im selben Boot."
Doch als er mit erhobenen Händen aus dem Geschäft kommt, zwingen ihn die Beamten auf den Boden und legen ihm Handschellen um. Er erscheint ihnen suspekt, auch weil seine Hautfarbe schwarz ist wie die des Geiselnehmers Coulibaly. Erst nach eineinhalb Stunden glauben sie ihm, dass er ein Mitarbeiter des Supermarktes ist, was Kollegen aus der Zentrale bestätigen. „Ich habe ihnen einen Lageplan aufgezeichnet, damit sie einen Überblick bekommen“, erklärt Bathily mit derselben schlichten Sachlichkeit, mit der er auch auf die Feststellung des Journalisten antwortet, dass er, ein Muslim, Juden geholfen habe. „Wir sind Brüder. Es ist nicht eine Frage von Juden, Christen oder Muslimen. Wir sitzen alle im selben Boot.“
Seine Aussage ist eines der vielen bewegenden Zeugnisse nach den Terror-Anschlägen, die das Land erschüttert haben. Und wühlt auch deshalb besonders auf, weil es von einem Mann kommt, der es in Frankreich nicht einfach hatte - einem Einwanderer, wie ihn viele gar nicht hier haben wollen. Im Alter von 16 Jahren folgte Lassana Bathily seinem Vater nach Paris, während die Mutter in Mali blieb. Vier Jahre lang kämpfte er um Papiere und eine Arbeitserlaubnis. „Es war sehr schwer, eine Arbeit zu finden und auch, sich in die französische Gesellschaft einzugliedern“, sagt er. Eine Anlaufstelle für Migranten half ihm ebenso wie die malische Gemeinschaft in Paris. 2011 stellte ihn der koschere Supermarkt bei Vincennes an. Er habe dort sogar einen Platz, um zu beten. „Man hat mir gegenüber nie auch nur die geringste Bemerkung über meine Religion gemacht. Das ist für mich wie eine zweite Familie.“
Islamistischer Terror in Europa
Seit den Terroranschlägen in den USA vom 11. September 2001 gab es auch in Europa eine Reihe islamistischer Attentate. Manche Pläne konnten gerade noch vereitelt werden. Beispiele:
Dezember 2016: Ein Attentäter raste mit einem Lastwagen in einen Weihnachtsmarkt in Berlin und tötete zwölf Menschen. Der Islamische Staat bekannte sich zu dem Anschlag.
März 2016: Terroristen haben Sprengsätze am Flughafen und in der U-Bahn der belgischen EU-Hauptstadt Brüssel gezündet. Es gibt zahlreiche Tote und Verletzte.
November 2015: Bei einer Serie von Terroranschlägen in Paris sterben rund 130 Menschen. Zu den Attentaten bekennt sich wenig später der sogenannte "Islamische Staat".
Januar 2015: Bei einem Attentat auf die Redaktion des islamkritischen Satiremagazins Charlie Hebdo in Paris sterben zwölf Menschen.
Mai 2014: Im Jüdischen Museum in Brüssel erschießt ein französischer Islamist vier Menschen. Kurz darauf wird der Mann festgenommen.
Dezember 2013: Bei Selbstmordanschlägen in der russischen Stadt Wolgograd sterben 34 Menschen im Bahnhof und in einem Bus. Islamisten aus dem Nordkaukasus bekennen sich zu den Attentaten.
März 2011: Ein Kosovo-Albaner erschießt am Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten und verletzt zwei weitere schwer.
Januar 2011: Bei einem Selbstmordanschlag auf dem internationalen Moskauer Flughafen Domodedowo sterben mindestens 37 Menschen. Die Ermittler machen Islamisten aus dem Nordkaukasus verantwortlich.
Dezember 2010: Bei einem Sprengstoffanschlag in der Stockholmer Fußgängerzone stirbt der Attentäter. Hintergrund war vermutlich der Einsatz schwedischer Soldaten in Afghanistan.
März 2010: Die vier Mitglieder der islamistischen Sauerland-Gruppe müssen wegen geplanter Terroranschläge in Deutschland für bis zu zwölf Jahre ins Gefängnis.
Januar 2010: Gut vier Jahre nach der Veröffentlichung seiner Mohammed-Karikaturen in der Zeitung «Jyllands-Posten» entkommt der dänische Zeichner Kurt Westergaard nur knapp einem Attentat.
Juli 2006: Im Kölner Hauptbahnhof werden in zwei Zügen Bomben gefunden, die wegen eines technischen Fehlers nicht explodierten. Der «Kofferbomber von Köln» wird zu lebenslanger Haft verurteilt.
Juli 2005: Vier Muslime mit britischem Pass zünden in der Londoner U-Bahn und einem Bus Sprengsätze. 56 Menschen sterben, etwa 700 werden verletzt.
März 2004: Bei Sprengstoffanschlägen auf Pendlerzüge in Madrid sterben 191 Menschen, etwa 1500 werden verletzt.
Präsident François Hollande und der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu haben sich bei ihm bedankt. Tausende schlossen sich der Forderung im Internet an, Bathily die höchste Auszeichnung der Ehrenlegion und die französische Staatsbürgerschaft zu verleihen. Noch läuft sein Antrag auf Einbürgerung. „Ich zähle dabei nicht auf das, was passiert ist. Aber sie zu bekommen, wäre mir eine Freude“, sagt er. In aller Bescheidenheit.