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Hintergrund: Kommt nun die Bürgerversicherung?

Hintergrund

Kommt nun die Bürgerversicherung?

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    Eine Krankenversicherung für alle: Das SPD-Modell der Bürgerversicherung ist in der Gesundheitsbranche heftigst umstritten.
    Eine Krankenversicherung für alle: Das SPD-Modell der Bürgerversicherung ist in der Gesundheitsbranche heftigst umstritten. Foto: Jenny Sturm, Fotolia (Symbolbild)

    Noch steht nicht einmal fest, ob die SPD überhaupt Koalitionsverhandlungen mit der Union aufnimmt. Doch Bedingungen für eine weitere Große Koalition in eine von Kanzlerin Angela Merkel geführte Bundesregierung haben führende Sozialdemokraten bereits gestellt. Sie stellen nicht die Bekämpfung der Altersarmut durch die Einführung einer Solidarrente, ein Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit, sondern vor allem die Einführung einer Bürgerversicherung in den Mittelpunkt ihrer Forderungen. Könnte die SPD nun ausgerechnet mit ihrem schlechtesten Wahlergebnis seit 1949 ihr umstrittenes Jahrhundertprojekt umsetzen? Einige wichtige Fragen und Antworten:

    Wie viele Bundesbürger sind jeweils privat oder gesetzlich versichert?

    In Deutschland gibt es, historisch bedingt, ein Nebeneinander von gesetzlicher Kranken- und Pflegeversicherung (GKV) für alle Arbeiter, Angestellte und Rentner sowie privater Krankenversicherung (PKV) für Beamte, Richter, Freiberufler, Selbstständige und Angestellte, die mehr als 59.400 Euro brutto im Jahr verdienen. Derzeit sind rund 8,8 Millionen Bundesbürger privat versichert – etwa elf Prozent der Bevölkerung. Der gesetzlichen Krankenversicherung gehören rund 32,6 Millionen Arbeitnehmer, 16,8 Millionen Rentner und 16,2 Millionen kostenfrei mitversicherte Familienangehörige sowie 5,8 Millionen freiwillig Versicherte an.

    Was sind die Hauptunterschiede zwischen den privaten Versicherungen und den gesetzlichen Kassen?

    In der gesetzlichen Krankenversicherung gilt ein einheitlicher Beitragssatz von derzeit 14,6 Prozent des Einkommens für alle Versicherten, unabhängig von ihrem Alter oder ihrer Krankengeschichte plus eines Zusatzbeitrags der jeweiligen Kasse (im Durchschnitt 1,0 Prozent). In der privaten Krankenversicherung errechnen sich die Beiträge der PKV nach Alter, Gesundheitszustand und gewünschten Versicherungsleistungen. Junge zahlen weniger als Alte, Gesunde weniger als Kranke. Bei den gesetzlich Versicherten rechnen Ärzte und Krankenhäuser direkt mit der Krankenkasse ab, bei Privatversicherten dagegen mit dem Patienten, der seinerseits von seiner Kasse die Kosten erstattet bekommt. Bei Privatversicherten können Ärzte und Kliniken zum Teil einen höheren Multiplikator anwenden und somit höhere Einnahmen erzielen.

    Was bedeutet eine Bürgerversicherung für die Zukunft der beiden Krankenversicherungsarten?

    Nach dem Modell der SPD, das die frühere Arbeits- und Sozialministerin und jetzige Fraktionschefin Andrea Nahles maßgeblich entwickelt hat, gäbe es künftig nur noch ein solidarisches System, in dem ohne Ausnahme alle Bürger unter Einbeziehung aller Einkunftsarten versichert sind und im Versicherungsfall die gleiche Leistung erhalten.

    Würde das SPD-Modell das Aus der privaten Krankenversicherungen bedeuten?

    Nein, am Nebeneinander von gesetzlichen und privaten Kassen würde sich auf Dauer nichts ändern. Wie bisher können die Versicherten private Zusatzversicherungen abschließen, um medizinische Sonderleistungen zu erhalten, die über die Grundversorgung hinausgehen. Derzeit haben 24 Millionen Bürger derartige Zusatzversicherungen abgeschlossen, 2002 waren es erst 14 Millionen. Mehr als die Hälfte der Verträge beziehen sich auf verbesserte Leistungen beim Zahnarzt. Ein starkes Wachstum gibt es auch bei den Pflege-Zusatzversicherungen, zumal es dafür auch eine staatliche Förderung gibt, den sogenannten „Pflege-Bahr“, benannt nach dem früheren FDP-Gesundheitsminister Daniel Bahr, der heute als Allianz-Versicherungsmanager arbeitet.

    Was wären die Vorteile einer Bürgerversicherung?

    Die SPD argumentiert, dass dies ein Ende der Zwei-Klassen-Medizin bedeuten würde, da bislang Privatversicherte eine gewisse Vorzugsbehandlung genossen, schneller einen Termin erhielten oder Zusatzleistungen in Anspruch nehmen konnten. In Zukunft wäre die Grundversorgung für alle gleich. Zudem würde mit einem Schlag sehr viel mehr Geld ins System fließen, womit man weitere Leistungskürzungen verhindern könnte. Langfristig aber werden auch die Ausgaben steigen.

    Was wären die Nachteile einer Bürgerversicherung?

    Kritiker der Bürgerversicherung verweisen auf Erfahrungen in Ländern wie den Niederlanden oder Großbritannien. Dort führte die Einführung eines Einheitssystems zu einer deutlichen Absenkung des Versorgungsniveaus für alle Versicherten, zu längeren Wartezeiten und zu einer strikteren Budgetierung. Gleichzeitig nahm die Spreizung zu, da sich nur noch Gutverdiener den Zugang zu einer „Spitzenmedizin“ leisten können. Die Ärzte befürchten Umsatzeinbußen, die privaten Krankenversicherungen sehen bis zu 100.000 Arbeitsplätze in ihrer Branche in Gefahr.

    Könnte eine Umstellung für die Versicherten sofort erfolgen?

    Nein, für die bisher Privatversicherten müsste es nach dem Prinzip der Besitzstandswahrung langfristige Übergangslösungen geben, da die Privatanbieter verpflichtet sind, für jeden Versicherten Altersrückstellungen vorzunehmen. Diese Vermögenswerte können nicht einfach aufgelöst werden. Bislang Privatversicherte sollen nach den Vorstellungen der SPD daher wählen können, ob sie in die Bürgerversicherung wechseln oder in der Privaten bleiben wollen – mit dem Risiko, dass im Alter die Beiträge deutlich steigen.

    Lesen Sie dazu auch: Union warnt SPD vor Angriff auf Krankenkassen

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