Ein Überwachungsfahrzeug registriert jeden Schritt und Tritt. Niemand bleibt unbeobachtet in der Hans-Crescent-Straße vor der ecuadorianischen Botschaft in London. Jeder, der sich dem Gebäude nähert, wird von Spezialkameras aufgenommen. Vier Polizisten patrouillieren vor der Vertretung rund um die Uhr. Während in der Nachbarschaft um Nobel-Kaufhaus "Harrods" das Leben pulsiert, residiert seit dem 20. Juni 2012 Julian Assange hinter den Mauern der Botschaft. Käme er heraus, würde er sofort verhaftet. Die Polizeiüberwachung hat den britischen Steuerzahler bisher rund 3,3 Millionen Euro gekostet. Der durch die Enthüllungsplattform Wikileaks bekannt gewordene Internetaktivist versteckt sich aus Angst vor der Auslieferung nach Schweden. Die Justiz ermittelt wegen des Verdachts der Vergewaltigung gegen ihn. Der 41-Jährige beteuert seine Unschuld und fürchtet, nach der Überstellung nach Schweden an die USA weitergereicht zu werden, wo ihm ein Prozess wegen Geheimnisverrats drohen könnte. Nach monatelangem Schweigen hat sich Assange vergangene Woche zurückgemeldet und in einer Videobotschaft Edward Snowden verteidigt - den Computerexperten, der der Welt verriet, wie der US-Geheimdienst NSA amerikanische IT-Firmen ausspioniert.
Julian Assange lebt völlig abgeschottet
Es war ein seltenes Lebenszeichen von Julian Assange. Kaum einer dringt zu ihm vor. Auf Anfragen von Medien antwortet er nicht. Es ist lange her, dass Assange auf dem Balkon der Botschaft den Vereinigten Staaten die Bedrohung der Meinungsfreiheit vorwarf. Er appellierte damals an Obama, die "Hexenjagd" auf Wikileaks zu beenden.
Einer der wenigen, der Assange vor einigen Wochen besuchen konnte, ist der französische Philosoph Alexandre Lacroix. "Man fühlt, es ist für ihn nicht leicht, zwischen vier Wänden zu leben und dort zu bleiben", sagte Lacroix zu AZ Online. Assange setze die Gefangenschaft zu. Der Philosoph zeigt sich aber beeindruckt von dem Willen Assanges, für seine Sache zu kämpfen, und er ist fasziniert von Assanges Intelligenz: Der Australier reagiere in Gesprächen mit blitzschnellen durchdachten Antworten, fast wie ein Computer. Der Selbstdarstellungsdrang als Held passe gar nicht so recht zur Persönlichkeit Assanges, meint Lacroix.
Der Informatiker Daniel Domscheit-Berg kennt Julian Assange wie fast kein anderer. Eigentlich möchte der 34-jährige Informatiker von seinem ehemaligen Wegbegleiter nicht mehr viel wissen, mit dem er einst Wikileaks aufbaute. "Ich bin sehr froh, dass es vorüber ist", sagt er AZ Online. Seit dem Bruch der Geschäftspartner hat der Deutsche mit dem Australier auch kein Wort mehr gewechselt.
Der Kontrollwahn ging Wegbegleitern irgendwann auf die Nerven
"Julian ist kein Team-Player", sagt Domscheit-Berg. Assange komme mit Menschen nur gut aus, solange er etwas von ihnen wolle. "Doch wenn jemand die ganze Zeit den Diktator spielt, dann ist das keine Grundlage für eine Zusammenarbeit." Domscheit-Berg ging vor allem Assanges Kontrollsucht irgendwann auf die Nerven. Die Aufarbeitung der Wikileaks-Dokumente geschah zunächst in freiwilliger Arbeit, ohne die die vielen tausend Unterlagen nie hätten veröffentlicht werden können, wie Domscheit-Berg erzählt. Als man der Öffentlichkeit die vielen Dokumente präsentieren wollte, habe es zum Beispiel Absprachen und Strategien mit großen Medienhäusern wie dem Spiegel oder der New York Times gegeben.
"Fünf Tage vor der Publikation mussten die Texte dann noch redigiert werden", sagt der Informatiker. "Und was hat Julian gemacht? Er ließ in London einen Dokumentarfilm über sich drehen", ärgert er sich. "Selbstdarstellerisch zu sein, ist okay. Die Professionalität darf aber nicht darunter leiden."
Vorsichtig wird Domscheit-Berg, wenn es um die Vergewaltigungsvorwürfe in Schweden geht. Er sagt nur: "Ich war nicht dabei und kann das wirklich nicht einschätzen." Seiner Meinung nach gehe es bei all den Vorwürfen aber nicht um Vergewaltigung, sondern eher um die Frage, ob er beim Sex mit zwei schwedischen Frauen kein Kondom benutzen wollte und einen Aids-Test verweigert habe. In Schweden könnten Frauen von Männern, die mit ihnen geschlafen haben, diesen einfordern, verweist Domscheit-Berg. Für ihn ist Assange aber "auf keinen Fall ein gewalttätiger Vergewaltiger".
Das Wort Chauvinist hört man im Zusammenhang von Assange immer wieder. Ein Macho, der sich alles nehme, wie es ihm gefällt, sich Frauen überlegen fühlt. Domscheit-Berg sagt, dass er zu dem Thema lieber nichts in der Zeitung lesen möchte.
Daniel Domscheit-Berg zweifelt ein faires Verfahren nicht an
Dass Assange in Schweden ein faires Verfahren bekommen würde, davon ist Domscheit-Berg überzeugt. Er hält es für ausgeschlossen, dass das europäische Land seinen Assange in die USA ausliefert. Der schwedische Generalstaatsanwalt, Anders Perklev, erklärt auf Anfrage lediglich: "Assange gilt wie jede andere Person so lange als unschuldig, bis seine Schuld vor einem Gericht geprüft worden ist."
Domscheit-Berg fürchtet, dass auch sein Name in den Ermittlungsakten der amerikanischen Justiz auftaucht. Er war mit dabei, als über 700 000 größtenteils geheime Dokumente der US-Armee über Wikileaks an die Öffentlichkeit gingen. Darunter waren auch Geheimvideos von Luftangriffen im Irak und Afghanistan, die zeigten, wie das Militär Zivilisten tötete.
Zugespielt bekamen damals Assange und Domscheit-Berg die Unterlagen und Dateien von Bradley Manning. Der ehemalige Geheimdienst-Analyst der US-Armee bekannte sich im Frühjahr vor Gericht in Teilen schuldig: Er habe mit den Unterlagen eine "öffentliche Debatte" über die amerikanische Diplomatie und Verteidigungspolitik lostreten wollen, rechtfertigte er sich.
Für Wikileaks, so meint Domscheit-Berg, sei deshalb nicht Assange, sondern Bradley Manning "der eigentliche Held".