Jakob Maria Mierscheid ist für kantige Äußerungen bekannt. Der SPD-Bundestagsabgeordnete sagt, was er denkt: „Überlege, in die FDP einzutreten. In meinem Alter mag man Dinge, die muffelig riechen“, schreibt der 79-jährige Parlamentarier auf seinem Kanal beim Kurznachrichtendienst Twitter. Dort hat Mierscheid mehr als 5000 Abonnenten – und hat damit viele seiner Parteikollegen wie den Augsburger Bundestagsabgeordneten Heinz Paula oder den Kandidaten für das Amt des bayerischen Ministerpräsidenten, Christian Ude, längst überholt.
Auf der offiziellen Internetseite des Parlaments vertreten
Seit 1979 sitzt der gelernte Schneider aus dem bescheidenen Morbach in Rheinland-Pfalz im Bundestag. Auf der offiziellen Internetseite des Parlaments ist über ihn zu lesen, dass er Mitglied in der Gewerkschaft „Landwirtschaft und Forsten“, im Kleintierzüchterverein, beim Sängerbund und den Turnfreunden ist. Mierscheid interessiere sich für „allgemeine Sozialfragen“ und widme sich der „Aufzucht und Pflege der geringelten Haubentaube in Mitteleuropa und anderswo“ ebenso wie der „Untersuchung des Nord-Süd-Gefälles im Bundesgebiet“.
Nichts deutet darauf hin, dass er sich gewaltig von seinen Parlamentskollegen unterscheidet. Doch ein Foto des dienstältesten Abgeordneten gibt es nicht. Auf der Seite des Bundestages ist lediglich ein Bild zu sehen, das den bekennenden Hinterbänkler mit dem Rücken zur Kamera im leeren Plenarsaal sitzend zeigt. Ganz sicher war Mierscheid auch noch nie bei einer Sitzung des Parlaments anwesend –denn er ist ein Phantom. Erfunden von der SPD: Aus einer Bierlaune heraus erschufen die beiden Bundestagsabgeordneten Peter Würtz und Karl Haehser 1979 die Figur Mierscheid. Damit wollten sie den zuvor gestorbenen ehemaligen SPD-Abgeordneten Carlo Schmid ehren und die Abgeordneten von Zeit zu Zeit an das wahre Leben erinnern, was in ihren Augen durchaus auch mal lustig sein darf. Inzwischen ist der technische Leiter der SPD-Bundestagsfraktion, Friedhelm Wollner, der Kopf hinter Mierscheid.
Der fiktive Politiker macht mit Vorschlägen auf sich aufmerksam
Und so geistert der passionierte Haubentaubenzüchter seit nunmehr 33 Jahren durch die Politik – und durch die Medien. 1983 erfand der fiktive Politiker ein nach ihm benanntes Gesetz über den Zusammenhang zwischen Stimmenanteil der SPD bei Bundestagswahlen und Rohstahlproduktion in den alten Bundesländern. Ein anderes Mal forderte Mierscheid, das Hinterbänklerdasein im Bundestag abzuschaffen – und einfach alle Stühle in die erste Reihe zu stellen. Und vom ehemaligen Fraktionschef Franz Müntefering erhielt er eine Abmahnung, weil er den Namen der früheren SPD-Gesundheitsministerin Ulla Schmidt zum Unwort des Jahres erklären lassen wollte.
„So einer wie Mierscheid wird gebraucht“, sagte der Ex-Fraktionsvorsitzende Peter Struck einmal über das Phantom. Denn auch in der Politik geht es eben nicht ohne Humor. Mal sehen, was sich der Hinterbänkler aus dem Hunsrück als Nächstes einfallen lässt . . .