Die bis jetzt bekannten Hintergründe des Anschlags in Boston sind ein Albtraum für die Sicherheitsbehörden: Junge Männer, die jahrelang unauffällig im Land leben, radikalisieren sich und werden zu tickenden Zeitbomben. Auf diese Bedrohung für die USA, ja die ganze westliche Welt hat Rolf Tophoven bereits vor Jahren hingewiesen. Unsere Zeitung sprach mit dem Terrorismusexperten.
Die Täter von Boston kamen aus dem über Jahre durch Krieg und blutige Anschläge geprägten Tschetschenien. Kann diese Situation eine Rolle bei den Anschlägen gespielt haben?
Tophoven: Der Anschlag galt ja einer Veranstaltung in den USA, ausgeführt von zwei jungen Männern, die seit Jahren dort leben und dort sozial vernetzt sind. Mit den Kriegen, die Russland 1995 und 1999 in Tschetschenien führte, haben die Taten also kaum etwas zu tun. Allerdings mag die Herkunft der Brüder aus einem Land, in dem Gewalt als oft einziges Mittel gilt, seine Ziele durchzusetzen, eine Rolle gespielt haben.
Die Sicherheitskräfte sind dafür kritisiert worden, wegen eines flüchtigen 19-Jährigen die Metropole Boston in einen Ausnahmezustand versetzt zu haben. Gleichzeitig tauchen Berichte auf, wonach der ältere Bruder bereits im Visier des FBI war. Läuft da etwas falsch?
Tophoven: Man darf nicht vergessen, dass die USA noch immer von den Anschlägen am 9. September 2001 traumatisiert sind. So ist der Großeinsatz besser zu verstehen. Ich habe eine ganz andere Sorge: Ich fürchte, dass das 2002 als Reaktion auf diese Terrorakte gegründete Ministerium für Innere Sicherheit, die Homeland Security, nicht in der Lage ist, den Datenwust zu sichten. Da liegt die Gefahr bei einer derart aufgeblähten Behörde.
US-Präsident Obama erhält viel Lob. Er habe – anders als sein Vorgänger Bush – besonnen reagiert.
Tophoven: Das sehe ich auch so. Seine ruhigen, aber bestimmten Auftritte waren angemessen. Gleichzeitig aber ist er bisher leider daran gescheitert, das völkerrechtlich unhaltbare Straflager Guantanamo zu schließen. Auch ist Obama für die aggressive Drohnenpolitik verantwortlich. Bei den Angriffen mit den unbemannten Flugkörpern auf Topterroristen gab es immer wieder zivile Opfer.
Sie haben schon im Sommer 2011 vor radikalisierten islamistischen Einzeltätern gewarnt. Ist die Gefahr seitdem weiter gestiegen?
Tophoven: Leider gibt es viele Anhaltspunkte dafür. Wie die Anschläge in Südfrankreich im März 2012, als in Toulouse und der umliegenden Region sieben Menschen getötet wurden. Der Haupttäter, ein junger muslimischer Franzose algerischer Herkunft, gilt zwar als glühender Anhänger der El Kaida, hatte laut den Ermittlern aber keine direkten Kontakte zum Terrornetz.
Und jetzt Boston.
Tophoven: Genau. Da schält sich ein Profil heraus: orientierungslose junge Männer auf der Sinnsuche, die sehr empfänglich sind für radikale Prediger. Für viele sind dazu noch islamistische Internetseiten eine Art „Universität des Heiligen Krieges“. Auffällig werden die Männer, die oft seit vielen Jahren in westlichen Ländern leben, dann erst durch ihre Taten. So war es auch bei dem Kosovaren Arid U., der im März 2011 am Frankfurter Flughafen zwei US-Soldaten erschossen hat. Die El Kaida kann indirekt Nadelstiche setzen, indem sie Menschen zu terroristischen Taten inspiriert, ohne mit ihnen überhaupt Kontakt aufzunehmen.
Wie ordnen Sie in diesem Zusammenhang die aktuellen Meldungen aus Kanada ein?
Tophoven: Nach allem, was man weiß, ist der geplante Anschlag ein Indiz dafür, dass El Kaida nach wie vor versucht, Anschläge in westlichen Staaten zu organisieren. Dabei hatte sie glücklicherweise zuletzt viele Misserfolge. Ohnehin existiert heute – anders als früher – kaum noch eine El-Kaida-Spitze, die gezielt agieren kann. Was bleibt, sind mittlere oder kleine Terrorzellen, die international, meist aber regional aktiv sind. Und eben Einzeltäter oder kleine Gruppen, die die Ziele der El Kaida teilen, aber auf eigene Faust Anschläge planen und begehen.
Was kann man gegen diese Art von Terrorismus überhaupt tun?
Tophoven: Es ist fast unmöglich, an diese Einzeltäter oder Minizellen heranzukommen. In einzelnen Fällen mag es möglich sein, junge Männer mit Aussteigerprogrammen aus dem terroristischen Sumpf herauszuholen. Aus operativer Sicht bleibt Terrorbekämpfung nach wie vor Sache der Nachrichtendienste. Am Beispiel Israel wird deutlich, dass hier kleine, kompakte und bewegliche Dienste am erfolgreichsten agieren können.
Welche Konsequenzen sehen Sie für Deutschland?
Tophoven: Ich halte es für sinnvoll, an neuralgischen öffentlichen Plätzen mehr Videoüberwachung einzusetzen. Auch wenn klar sein muss, dass dadurch keine Taten verhindert werden, sondern allenfalls die Chancen für eine Aufklärung steigen. Gleichzeitig bin ich davon überzeugt, dass wir es uns nicht länger leisten können, die Vorratsdatenspeicherung zu blockieren. Terroristen mögen mittelalterliche Vorstellungen haben, doch sie nutzen die Technik der Gegenwart. Unsere Reaktion auf den Terror entscheidet über Sieg und Niederlage in diesem Kampf: Wir müssen reagieren, dürfen aber nicht überreagieren.
Rolf Tophoven, geboren 1937, beschäftigt sich seit den 70er Jahren intensiv mit den Thema Terrorismus. Seit 2003 ist er Direktor des „Instituts für Krisenprävention“ (Iftus) in Essen. Bereits 1975 erregte sein Buch „Fedayin. Guerilla ohne Grenzen“ Aufmerksamkeit. An dem Werk „Das Jahrzehnt des Terrorismus“ (2010) wirkte er als Co-Autor mit.