Unter anderen Umständen hätte es eine unbeschwerte kleine Feier werden können. Am Freitag werden es zehn Jahre sein, dass sie sich gegen Gerhard Schröder durchgesetzt hat, CDU-Vorsitzende ist sie schon länger als Konrad Adenauer – und wenn der Eindruck nicht täuscht, hat Angela Merkel auch den Ehrgeiz, die 16 Kanzlerjahre von Helmut Kohl noch zu übertreffen. Ausgerechnet auf dem Zenit ihrer Macht bekommt das Image der schier unbezwingbaren Regentin nun jedoch erste Kratzer. Die Entscheidung, an Deutschlands Grenzen wieder zu kontrollieren wie zu Zeiten des Eisernen Vorhanges, ist ja nichts anderes als das Eingeständnis einer grandiosen Fehleinschätzung. Angela Merkel wollte Ungarn helfen, hat Deutschland damit aber in eine Situation gebracht, in der es nicht mehr anders reagieren konnte als die Länder, auf die wir Deutschen in der Flüchtlingskrise bisher mit den Fingern gezeigt haben. Auf die, die sich abschotten. Ungarn. Tschechen. Polen. Slowaken.
Ob das schon die ersten Anzeichen einer Kanzlerdämmerung sind, müssen später einmal die Historiker beurteilen. Sicher ist nur eines: Ausgerechnet Angela Merkel, von der es immer hieß, sie betrachte die Dinge vom Ende her, hat im entscheidenden Moment eben jenes Ende nicht mit bedacht. Sie hat sich über geltendes Recht hinweggesetzt, indem sie Ungarn die Verantwortung abnahm, Tausende von Flüchtlingen unkontrolliert einreisen ließ und Tausende andere ermunterte, ihnen zu folgen. Und sie hat die Sorgen vieler Menschen, auch ein wohlhabendes Land wie die Bundesrepublik könnte dadurch bald überfordert sein, mit einem Satz kommentiert, der juristisch unbestreitbar richtig ist, der aber jedes Gefühl für die Situation vermissen ließ: Das Grundrecht auf Asyl kennt keine Obergrenze.
Auch die gebetsmühlenhafte Art, in der ihre Sprecher beteuern, Deutschland schaffe das schon, verliert angesichts der schieren Zahlen allmählich an Überzeugungskraft. SPD-Chef Sigmar Gabriel rechnet bereits mit einer Million Flüchtlingen in diesem Jahr. Die Stimmung droht zu kippen.
Grenzkontrollen verschaffen den Behörden Luft
So groß die Hilfsbereitschaft nach wie vor ist, gerade in Bayern, so sehr die Welt uns für unsere Kultur des Willkommens bewundert: In der vergangenen Woche ist das reiche, gut organisierte Deutschland an eine Kapazitätsgrenze gestoßen. Wer kommt wirklich aus Syrien und wer nur mit einem falschen Pass? Wer hat noch Plätze frei, wer schafft die Flüchtlinge aus München in die Eifel oder nach Ostholstein? Und, nicht zuletzt: Wie lange reichen die sechs Milliarden Euro überhaupt, die der Bund zusätzlich zur Verfügung stellt? Natürlich kann Deutschland 800000 Flüchtlinge verkraften, vielleicht sogar eine Million – aber nicht Jahr für Jahr und nicht in Wellen wie denen der vergangenen Tage. Die Notbremse, die der Innenminister jetzt gezogen hat, wird den Flüchtlingstreck vielleicht nicht stoppen, aber sie wird ihn durch gezielte Kontrollen so verlangsamen, dass die Behörden wieder etwas Luft zum Atmen bekommen, dass sie wieder einfacher trennen können zwischen berechtigten und erschlichenen Ansprüchen und dass sie wieder auf dem Boden des Asylrechts operieren können, das die Kanzlerin für eine Woche im Alleingang ausgesetzt hat. Weder die Bundesländer noch die Kommunen, die ja die größte Last zu schultern haben, waren eingeweiht.
Grenzkontrollen verändern Europa
Der Preis, den die Bundesrepublik für Angela Merkels Fehleinschätzung bezahlt, ist hoch – finanziell und ideell. Auch Deutschland, das von der faszinierenden Idee der Freizügigkeit so sehr profitiert wie kein EU-Mitglied sonst, ist nun Teil eines neuen Europa: dem Europa der Schlagbäume.
Die Kanzlerin hat sich verkalkuliert.