Was der Polizeikommissar Jens Rohde vor zwei Jahren erlebte, erinnert eher an einen amerikanischen TV-Krimi als an das Bild, das Laien von der deutschen Justiz haben. Der junge Polizist fühlte sich unschuldig und reinsten Gewissens, als er zusammen mit seinem Streifenkollegen vor dem Berliner Landgericht landete.
Plötzlich saßen sie selbst auf der Anklagebank
Er und sein Kollege hatten bei einer Routinekontrolle zwei Verdächtigen mehrere Stangen Zigaretten abgenommen, weil sie die Männer für Schwarzhändler hielten. Vermutlich ein Irrtum, die Verdächtigen reagierten mit einer Strafanzeige. Plötzlich fanden sich die Beamten auf der Anklagebank wieder, denn die Zigaretten waren nicht in Polizeiakten ordnungsgemäß verbucht. Die Anklage lautete nicht auf Diebstahl, sondern, weil Rohde und sein Kollege eine Dienstwaffe am Mann trugen, juristisch korrekt auf Raub. Karlsruhe setzt enge Grenzen für "Deals"
Doch zur richtigen Verhandlung mit Zeugenaussagen und Beweisanträgen kam es nicht. Richter, Staatsanwaltschaft und auch sein Anwalt wollten kurzen Prozess machen: Entweder ein Geständnis und zwei Jahre auf Bewährung oder vier Jahre Gefängnis sei seine einzige Wahl gewesen.
„Wir sagten, wir könnten doch alles lückenlos aufklären, aber der Anwalt sagte, das hätte keinen Wert, am Ende würden wir zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt und womöglich sogar noch im Saal verhaftet“, schildert Rohde den Fall im Interview von Spiegel Online. „Es war alles so falsch“, betont er. „Doch irgendwann war es so weit, und wir haben beide gesagt, wir lassen uns darauf ein.“
Grundsatzurteil des BVG stellt "Deals" infrage
Doch nur wenige Tage nach dem Urteil legten die beiden Polizisten, die mit dem Strafmaß ihre Jobs verloren, Revision ein. Sie scheiterten in allen Instanzen – bis ihnen nun das Bundesverfassungsgericht recht gab. Die Justiz darf keine Geständnisse mit Strafdrohungen erzwingen. Nicht nur in Rohdes Fall, sondern generell. Mit dem Grundsatzurteil stellt Karlsruhe die Praxis des sogenannten „Deals“ infrage.
Die seit 2009 im Gesetz festgeschriebene Regelung sei „derzeit noch nicht verfassungswidrig“, stellte das Gericht in ungewohnter Form klar. Aber fast verfassungswidrig: Ein vom Gericht in Auftrag gegebenes Gutachten des Düsseldorfer Professors Karsten Altenhain, der über 300 Richter, Staatsanwälte und Verteidiger befragte, zeichnete ein erschütterndes Bild.
Die Befragten wussten von reihenweise Falschgeständnissen, fast jeder dritte Richter räumte ein, dass er der gesetzlichen Pflicht, Geständnisse zu überprüfen, zu wenig nachkomme. Zwei Drittel räumten ein, dass sie bei den „Verständigungen im Strafprozess“, wie der Deal offiziell heißt, vermutlich gegen die Strafprozessordnung verstießen. Das Gesetz, so rechtfertigten sich viele, sei praxisfern.
Die Karlsruher Richter mahnen ihre Kollegen
Das wollte der Zweite Senat unter Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle nicht gelten lassen: „Zentrales Anliegen des Strafprozesses ist die Ermittlung des wahren Sachverhalts“, erinnerte das Gericht an Selbstverständliches. Auch bei einem Deal sei ein „Geständnis zwingend auf seine Richtigkeit zu überprüfen“.
Die Unschuldsvermutung und die Freiheit eines Beschuldigten, sich nicht selbst belasten zu müssen, seien elementare Grundrechte. Insbesondere hier dürfe es keinen Zwang geben. Auch dürfe der Deal nicht weiterhin „informell“ ohne Dokumentation und ohne öffentliche Beweisführung geschlossen werden. Dies müsse der Gesetzgeber genau kontrollieren, „sonst träte ein verfassungswidriger Zustand ein“.
Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zeigte sich offen für Konsequenzen: Das Verfassungsgericht habe eine Gelbe Karte gezeigt, räumte die FDP-Politikerin ein. Sie wolle nicht nur die Praxis sorgfältig beobachten, sondern sich auch Gedanken machen, „wie das Korsett für eng eingegrenzte Absprachen noch besser geschnürt werden kann“. (mit dpa)