Inzwischen kommt es hier, im Starnberger Flügelbahnhof, zu merkwürdigen Szenen: Fünf Menschen mit pinkfarbenen Warnwesten, die gelbe Notizzettel auf der Stirn kleben haben, sitzen in der Nebenhalle des Münchner Hauptbahnhofs auf dem Boden. Neben ihnen stehen palettenweise Wasserflaschen, Isomatten stapeln sich an einer Wand. Auf den Post-its stehen Namen von Prominenten, die per Nachfragen erraten werden müssen. „Die Flüchtlinge, die hereinkommen, schauen erst einmal, was wir hier tun“, sagt Isabel. Dann lachen sie, weil es eine so absurde Situation ist. „Wer bin ich?“ heißt dieses Spiel, mit dem sich die Ehrenamtlichen in den langweiligen Nachtstunden die Zeit vertreiben. „Wieso bin ich eigentlich hier?“, lautet die Frage, die in diesen Tagen hinter den Klebezetteln in einigen Köpfen herumgeistert.
Isabel ist eine von fünf Helfern, die in München Flüchtlinge begrüßen – 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, eingeteilt in fünf Schichten. Dabei ist es ziemlich ruhig geworden in und um den Hauptbahnhof. Es ist Wochen her, dass der Schichtdienst tatsächlich nötig war. Derzeit kommen am Tag höchstens ein paar Dutzend Flüchtlinge an, manchmal auch 100 oder 200 – mehr nicht.
Die Helfer mit den Klebezetteln gehören zu den 5000 Ehrenamtlichen, die in diesem Sommer einfach anpacken und München damit zu einer besonderen Stadt machen. Es herrscht eine Stimmung, wie es sie seit der Wiedervereinigung in Deutschland vielleicht nur noch einmal gegeben hat – bei der Weltmeisterschaft 2006. Das liegt einzig an den Münchnern: Sie schleppen tagelang Lebensmittel und Getränke zum Hauptbahnhof, bringen säckeweise Stofftiere und Kleidung vorbei, spenden Shampoo, Zahnbürsten oder einfach ihren Schlafsack. Sie alle sind verantwortlich dafür, dass sich Deutschland der Welt offen und herzlich präsentiert. Der britische Guardian mutmaßt in diesen Septembertagen, dass sich das Wort „Willkommenskultur“ von München aus im englischen Sprachgebrauch verbreiten wird – wie es bisher beispielsweise Wörter wie „Blitzkrieg“, „Kindergarten“ oder „Rucksack“ getan haben.
Die Euphorie dauert bis zum Oktoberfest. Dann fürchtet die Politik Probleme mit den schieren Menschenmassen, die während der Wiesn am Hauptbahnhof ankommen – zusätzlich zu den tausenden Flüchtlingen täglich. Auch deshalb führt Deutschland die Grenzkontrollen wieder ein. Die Ehrenamtlichen haben bis dahin 120.000 Menschen aus Syrien und dem Irak, aus Eritrea und vielen anderen Ländern ein herzliches Willkommen bereitet – bis sie von hier aus in bayerische Erstaufnahmelager oder auch andere Bundesländer verteilt wurden.
Seit dem Oktoberfest werden die Flüchtlinge gleich an der Grenze zu Österreich abgefangen, um „ein ordentliches Verfahren“ zu gewährleisten, wie es heißt. Dieses Verfahren wird laufend verfeinert – und mittlerweile funktioniert es: An fünf Übergängen leitet man die Flüchtlinge über die Grenze nach Bayern, die meisten davon im Raum Passau, wo sie registriert und weiterverteilt werden. Die Strukturen stehen, die Helfer dort sind aufeinander eingespielt, die Aufregung der Anfangsmonate hat sich gelegt.
Hauptbahnhof München: Flüchtlingshelfer trinken Tee und unterhalten sich
München ist damit aus dem Spiel. Leider, sagen viele Ehrenamtliche. Sie bedauern es, dass die Zuwanderungsströme völlig an der Stadt vorbeilaufen. Dabei stehen sie bereit, immer noch – so wie im September, als teilweise mehr Helfer als Flüchtlinge am Hauptbahnhof waren. Wehmütig erinnern sie sich an die Hochzeiten in der verwahrlosten Halle des Flügelbahnhofs, wo die Absperrgitter Strukturen formten und gebleichte Schalterscheiben für einen noch tristeren Anblick sorgten. An diesem Vormittag ist die Halle leer. Wie so oft in den letzten Wochen. Die Helfer sitzen zu fünft in einer Ecke, unterhalten sich und trinken Tee, um sich warm zu halten.
Alle Euphorie ist weg, der ganze Schwung auch. „Dabei ist unsere Bewegung aus Schwung entstanden“, sagt Colin Turner. Der 36-Jährige ist seit dem ersten Tag dabei, ist Mitglied im Organisationsteam und spricht für die Münchner Ehrenamtlichen, die sich im Internet in Schichtlisten eintragen. Bei Turner und den anderen Helfern hat sich Frust aufgebaut. Man habe ihnen die Verantwortung weggenommen, obwohl sie feste Strukturen aufgebaut hatten, schimpft Turner beleidigt. Stattdessen habe man die Flüchtlingshilfe den kleinen Kommunen übertragen. Es sei klar gewesen, sagt Turner, dass Passau damit überfordert sein würde. Wieso also nicht wieder München? Diese Frage stellt sich auch die Grünen-Stadtratsfraktion. Wieso treten die Helfer hier die Zeit tot, während es im Raum Passau drunter und drüber geht? Unter der Überschrift „Niederbayern säuft ab, München schaut zu?“ wollte die Fraktion Ende Oktober wissen, warum man Niederbayern alleinlasse, wo doch München professionalisierte Strukturen habe. Auf die Antwort wartet sie noch heute.
Das Innenministerium hat sie: „Es macht logistisch keinen Sinn“, sagt Sprecher Stefan Frey. Der Verteiler in München sei nur nötig gewesen, weil die Flüchtlinge in Ungarn selbstständig in die Züge gestiegen waren und dann eben in München landeten. Das sei eine Ausnahmesituation gewesen, die langfristig nicht wünschenswert wäre.
Die Flüchtlingsströme laufen nun an München vorbei
Was bedeutet "Königsteiner Schlüssel" bei Verteilung der Flüchtlinge?
Wer als Flüchtling nach Deutschland kommt, muss sich erst mal registrieren lassen. Meist passiert das in der am nächsten gelegenen Erstaufnahmeeinrichtung im jeweiligen Bundesland.
Die Verteilung auf die Länder geschieht dann nach dem «Königsteiner Schlüssel». Grundlage für dessen Berechnung sind Bevölkerungszahl (ein Drittel) und Steuereinnahmen (zwei Drittel).
Die Quote wird von der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz jährlich neu ermittelt.
2015 nimmt Nordrhein-Westfalen die meisten Flüchtlinge auf, gefolgt von Bayern und Baden-Württemberg. Die niedrigsten Quoten haben Bremen, das Saarland und Mecklenburg-Vorpommern.
Den «Königsteiner Schlüssel» an sich gibt es seit 1949: Die Bundesländer einigten sich damals im hessischen Königstein auf einen Schlüssel zur Finanzierung von Forschungseinrichtungen außerhalb der Universitäten.
Das Instrument wird inzwischen aber auch für andere Fragen rund um die Lastenverteilung unter den Ländern genutzt. Seit Anfang 2005 dient der Schlüssel als Basis für die Verteilung von Asylbewerbern. dpa
Trotzdem bleibt die Landeshauptstadt bei dem Thema ein Zentrum: Dann nämlich, wenn es um die Verteilung der Menschen geht. Direkt am Odeonsplatz befindet sich die derzeit wohl wichtigste Logistikzentrale Deutschlands, der „Koordinierungsstab Asyl und Sicherheit“. Von hier aus werden die ankommenden Flüchtlinge nach dem Königsteiner Schlüssel verteilt.
Colin Turner will sich seinen Elan, seine Bereitschaft zum Helfen nicht nehmen lassen. Die Münchner Ehrenamtlichen wollen einen Verein gründen, mobile Einsatzteams aufbauen, die an die Grenze fahren und die Helfer vor Ort unterstützen. Und wenn man am Bahnhof keine Flüchtlinge mehr empfangen müsse, helfe man ihnen halt in den Unterkünften. „Wir werden für die Menschen da sein, wenn die Anspannung abfällt und die Bürokratie beginnt“, sagt Turner.
Was bekommen Flüchtlinge?
Flüchtlinge erhalten gemäß Asylbewerberleistungsgesetz Mittel zur Sicherung ihres Existenzminimums. Wie viel Bargeld ein Flüchtling bekommt, hängt davon ab, wie lange er in Deutschland ist und welche Sachleistungen er in seiner Unterkunft erhält.
In den Erstaufnahmeeinrichtungen werden vorrangig Sachleistungen gewährt. Dinge des täglichen Bedarfs wie Essen oder Möbel werden dort meist zur Verfügung gestellt. Außerdem gibt es Bargeld für persönliche Bedürfnisse.
Alleinstehende erhalten 143 Euro im Monat. Erwachsene, die als Partner einen Haushalt teilen, bekommen je 129 Euro. Wer sonst noch im Haushalt lebt, kriegt 113 Euro. Für Kinder stehen Familien je nach Alter 85 bis 92 Euro zu.
Wenn Asylbewerber nicht mehr in Gemeinschaftsunterkünften des Landes untergebracht sind und damit in der Regel Essen und andere Sachleistungen wegfallen, gibt es mehr Bargeld.
Erwachsene Alleinstehende erhalten dann 216 Euro, Kinder oder weitere Haushaltsmitglieder 133 bis 194 Euro.
Hier gibt es allerdings etwas Spielraum: Anstelle der Geldleistungen können auch - "soweit es nach den Umständen erforderlich ist", wie es im Gesetz heißt - Wertgutscheine und Sachleistungen gewährt werden.
Zudem übernehmen die Behörden anfallende Wohnkosten. Auch bei Krankheit, Schwangerschaft oder Geburt erstattet der Staat die Kosten.
Ist ein Flüchtling länger als 15 Monate im Land, stehen ihm bei Bedürftigkeit Leistungen auf dem Niveau der Sozialhilfe zu. Damit erhält ein Alleinstehender etwa 392 Euro. Zudem werden seine Wohnkosten erstattet. (dpa)
Die bewegenden Szenen dieses Septembers sind vielen Menschen so im Gedächtnis geblieben, dass sie sich deshalb noch jetzt als Helfer melden – in München und auch in vielen anderen Städten und Gemeinden Bayerns. Die 59-jährige Elisabeth Birkle etwa ist im Sommer von Bayern nach Budapest gewandert. Spätestens bei der Zugfahrt zurück nach München dämmert es ihr. „Wir sind in München mit vielen Flüchtlingen ausgestiegen und von noch mehr Helfern begrüßt worden.“ Im ersten Moment habe sie sich mit zum Gesundheitscheck schleusen lassen, weil sie gar nicht kapierte, was da passiert. „Ich war schon oft in Syrien im Urlaub, da will ich etwas von dem zurückgeben, was ich dort bekommen habe“, sagt sie. Seit einem Monat hilft sie in einer Unterkunft in der Münchner Richelstraße. Obwohl sie beruflich als Krankenschwester ziemlich eingespannt ist. Und obwohl ihr Mann damit nicht einverstanden ist. In der Richelstraße warten Flüchtlinge darauf, dass sie ihren Asylantrag stellen können. In den Sommerwochen war das Gebäude „Pufferzone“, wo die Flüchtlinge ausharrten, bis eine Unterkunft für sie gefunden war. Die Pufferzone ist längst umfunktioniert. Die Helfer sind geblieben.
Wird München bald zu einer Stadt, die wie jede andere in Deutschland einfach nur professionell und emotionslos mit dem Thema Flüchtlinge umgeht? So schnell wohl nicht. Die Ehrenamtlichen vom Hauptbahnhof sind stolz auf das, was sie im September geschafft haben. Darum werden sie dort auch weiterhin rund um die Uhr Flüchtlinge begrüßen.