„Ich war ein kleiner Beamter, als das Dritte Reich begann. Ich bin gezwungen worden, Ja zu sagen oder als Beamter auszuscheiden. Ich habe Ja gesagt, wie tausend andere auch.“ (Walther Huppenkothen, Regierungsdirektor im Reichssicherheitshauptamt, am 13. Oktober 1955 im Schlusswort als Angeklagter am Landgericht Augsburg.)
Ein unrühmliches Kapitel der deutschen Nachkriegsjustiz steht auf dem Programm, wenn der Schwurgerichtssaal des Alten Justizpalastes in Augsburg ab 3. Oktober zur Theaterbühne wird: das NS-Unrecht. Mit der Aufführung des Dokumentationsstücks „Die Ermittlung“ von Peter Weiss finden Inhalt und äußerer Rahmen auf seltene Weise zusammen. Denn auch im alten Schwurgerichtssaal Nr. 201 des Augsburger Landgerichts wurden wichtige Prozesse im Zusammenhang mit Verbrechen in Konzentrationslagern geführt. Im Gegensatz zu anderen arbeiteten die Augsburger Juristen die Geschehnisse der Nazizeit konsequent auf.
Theater macht aus der Platznot eine Tugend
20 Aufführungen der „Ermittlung“ sollen es sein, von 3. Oktober bis 10. Dezember. Das Augsburger Theater macht mit dem Gastspiel im Justizpalast auch aus der Platznot eine Tugend. Die dringend benötigte Ersatzspielstätte für die „Komödie“ wird erst im Mai fertig. Der Idee des Theaters, „Die Ermittlung“ an einem authentischen Ort zu spielen, hat sich Landgerichtspräsident Herbert Veh sofort geöffnet. Das Stück kommt also an einem Originalschauplatz zur Aufführung. Wenngleich sich der Saal 201 verändert hat. Nach einer Renovierung ist er von moderner Schlichtheit. Heute werden dort keine Straf-, sondern Zivilprozesse geführt. Hohe schneeweiße Wände. Kein Schmuck, nichts Historisierendes.
Ein passender Ort für „Die Ermittlung“ – in den 60er Jahren das herausragende Theaterereignis. Das Stück, das den ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess aufgreift und Protokolle verarbeitet, wurde an 15 Orten gleichzeitig uraufgeführt. Für die Diskussion über Schuld in der NS-Zeit und die Rolle der Justiz danach gab „Die Ermittlung“ viele wichtige Anstöße.
„Für Klamauk hätten wir uns nicht hergegeben, aber hier geht es um Gerechtigkeit und Menschlichkeit“, sagt Landgerichtspräsident Veh. Um diese Themen sei es auch in den Augsburger NS-Prozessen gegangen.
Da ist der Prozess gegen Ilse Koch, die Ehefrau des Lagerkommandanten von Buchenwald, Karl Koch. Es war das spektakulärste Verfahren. Ilse Koch soll eine unfassbare sadistische Perversion verkörpert haben. So berichteten KZ-Häftlinge, sie sei in knapper Kleidung die Wege hinabgegangen, um die Häftlinge zu provozieren. Wer sich jedoch nach ihr umdrehte, den meldete sie ihrem Mann. Der wurde schwer bestraft. Aufsehenerregend waren die Schilderungen, die Koch habe tätowierte Haut von Häftlingen zu Lampenschirmen und zum Einband eines Fotoalbums machen lassen. Diese Schauergeschichten wurden nicht bewiesen. Ilse Koch war zunächst vom amerikanischen Lagergericht in Dachau wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt, dann aber zu vier Jahren Gefängnis begnadigt worden. Nach heftigen Protesten in den USA wurde Ilse Koch Ende 1950 vor das Augsburger Schwurgericht gestellt, da sie im Landgerichtsbezirk Augsburg festgenommen worden war.
Sympathisanten von Ilse Koch protestierten gegen das Urteil
Am 15. Januar 1951 endete der Prozess nach der Vernehmung von 241 Zeugen mit der Verurteilung zu lebenslänglichem Zuchthaus wegen Anstiftung zum Mord, versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung. Sympathisanten von Ilse Koch protestierten. Die Urteilsbegründung lieferte eine umfangreiche Beschreibung des KZ Buchenwald und der dortigen Verhältnisse. Ilse Koch starb am 1. September 1967 im Aichacher Frauengefängnis.
Der juristisch bedeutsamste NS-Prozess in Augsburg behandelte die sogenannten Standgerichtsverfahren im KZ Flossenbürg. „Deutsches Schicksal vor Augsburger Gericht“ titelte unsere Zeitung damals. Zwei Männer saßen auf der Anklagebank: der SS-Chefrichter Otto Thorbeck und der SS-Standartenführer und Regierungsdirektor im Reichssicherheitshauptamt, Walther Huppenkothen. Sie waren am 8. April 1945, also kurz vor Kriegsende, als Richter bzw. Ankläger die Hauptpersonen in den „Standgerichtsverfahren“ gegen die Widerstandsgruppe um Admiral Canaris und Pastor Dietrich Bonhoeffer. Am Morgen nach dem Urteil wurden die Männer des Widerstands durch den Strang hingerichtet. Der Vorwurf gegen Thorbeck und Huppenkothen war, sie hätten an Scheinverfahren mitgewirkt und seien der Beihilfe zum Mord schuldig.
Zwei Freisprüche des Münchner Schwurgerichts wurden vom Bundesgerichtshof (BGH) aufgehoben. So kam es 1955 zum dritten Prozess in Augsburg. In einer viel beachteten Entscheidung verurteilten die Augsburger Richter Thorbeck und Huppenkothen zu vier und sieben Jahren Zuchthaus. In dem Verfahren von Flossenbürg sei es nicht um Wahrheit und Gerechtigkeit gegangen, sondern nur um die Vernichtung von Gegnern.
Die Augsburger Richter hatten damit getan, was für eine saubere juristische Aufarbeitung der NS-Zeit nötig war. Doch der BGH hob das Urteil wieder auf und entschied rechtskräftig: Thorbeck wird freigesprochen, Huppenkothen, der vom späteren bayerischen Innenminister Alfred Seidl (CSU) verteidigt wurde, muss sechs Jahre hinter Gitter. Dies aber nicht wegen der Verhängung der Todesurteile, sondern weil er an der Vollstreckung dieser Urteile mitgewirkt hatte, ohne die notwendige Bestätigung des Urteils durch den „obersten Gerichtsherrn“, also Adolf Hitler oder einen Stellvertreter, einzuholen.
Erst 1996 hob das Landgericht Berlin die Standrechtsurteile auf
Das schon damals massiv kritisierte BGH-Urteil, das Standgericht vier Wochen vor der Kapitulation sei möglicherweise ein ordnungsgemäßes Verfahren gewesen, wurde zur Richtschnur für etliche Prozesse gegen NS-Richter. 2002 sagte der damalige Präsident des Bundesgerichtshofs, Günter Hirsch (Neuburg an der Donau), die Täter seien durch das Urteil von 1956 von einem „Justizmord“ freigesprochen worden mit einer Begründung, die zur Folge hatte, dass kein einziger der Militärrichter, die während der Nazi-Herrschaft 50000 Todesurteile gefällt hatten, zur Rechenschaft gezogen wurde. Erst 1996 hob das Landgericht Berlin die Standrechtsurteile auf. Bis dahin war nicht klar, ob eine Symbolfigur des Widerstandes gegen Hitler wie Pastor Bonhoeffer aufgrund der NS-Urteile noch als vorbestraft zu gelten hatte.
Mittelbar war der Huppenkothen-Prozess auch der Anstoß für die Festschreibung des bis heute geltenden Verbots von Film- und Tonaufnahmen während Verhandlungen. Rechtsanwalt Seidl hatte sich später vehement gegen die Anwesenheit von Kamerateams zur Wehr gesetzt und vom Bundesgerichtshof recht bekommen.
Andere Prozesse erregten nicht so viel Aufsehen. Im Verfahren gegen Franz Xaver Trost ging es unter anderem um den „Kauferinger Todesmarsch“ im April 1945 Richtung KZ Dachau. Der Angeklagte hatte als „Kapo“ Mithäftlinge gequält und einige getötet. Verurteilt wurde Trost zu lebenslangem Gefängnis wegen vierfachen Mordes. Johann Kammerer war Lagerältester im KZ Mauthausen und nutzte seine Stellung zur Tötung anderer aus. Er wurde wegen Mordes in 94 Fällen zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt.
Der Huppenkothen-Prozess wurde im Schwurgerichtssaal 201 verhandelt
Da das 1875 erbaute Gerichtsgebäude im Zweiten Weltkrieg stark zerstört worden war, fanden manche Prozesse anderswo statt, so zum Beispiel das Verfahren gegen Ilse Koch im Kolpinggebäude. Der Huppenkothen-Prozess wurde im Schwurgerichtssaal 201 verhandelt.
Ab 3. Oktober werden hier also tagsüber Urteile im Namen des Volkes verkündet, und abends wird in dem Saal Theater gespielt. Das Landgericht setzt sich auch mit seiner eigenen Geschichte auseinander. Und Präsident Veh findet angesichts der in Augsburg gefällten NS-Urteile: „Das Augsburger Landgericht muss sich seiner Nachkriegsgeschichte nicht schämen.“