Die Polizisten klingelten morgens um zwei. Es ist die Nacht vor Fronleichnam. "Mein 55. Geburtstag", sagt Roswitha Rietzler, "den ich mit einem schönen Fest feiern wollte." Mit einem Fest - "und mit meinen Kindern".
Ihre Tochter Alexandra ist tot, sagen die Polizisten - und drücken Roswitha und Karl Rietzler ein Blatt Papier in die Hand. "Verstorben am 10. 6. 09, 22.45 Uhr" steht darauf. Dass sich die Leiche in der Rechtsmedizin befindet. Und eine Telefonnummer, unter der sie Genaueres erfragen können. Ein Unfall im U-Bahnhof Silberhornstraße in München, bei dem die 28-Jährige tödlich verletzt wurde.
Das Blatt Papier haben die Rietzlers immer noch. Viele Male haben es Roswitha und Karl Rietzler (62) inzwischen in der Hand gehabt. "Recht viel mehr wissen wir bis heute nicht", sagt Roswitha Rietzler. Was passiert ist, haben sie aus den Zeitungen erfahren, die unterschiedlichsten Versionen mussten sie lesen. Die Ermittlungsakte liegt bei der Staatsanwaltschaft. Den Inhalt kennen Roswitha und Karl Rietzler nicht.
Alexandra Rietzler war eine selbstständige junge Frau, die sich durch ihre Blindheit nicht bremsen ließ in ihrer Freude am Leben. Das Nesthäkchen der Familie. Als Frühchen ist sie zur Welt gekommen, erzählt Roswitha Rietzler, im Brutkasten wurden die Sehnerven beschädigt. Zusammen mit den beiden älteren Brüdern Dieter und Mario wächst sie auf dem Hof der Eltern in Riedis bei Oy-Mittelberg im Oberallgäu auf. Ein kleiner Wildfang, der mit Buben Fahrrad fährt und schon mal ausbüxt, um die Brüder an der Schulbushaltestelle abzuholen.
Roswitha Rietzler zeigt das Fotoalbum. "Unser Kind" steht auf dem Umschlag mit dem roten Herz. Ein fröhliches Kind ist auf den Bildern zu sehen, das sich gern als Pumuckl verkleidet. "Ich bin wie alle anderen - nur blind", hat sie immer gesagt.
Als Alexandra sieben ist, wechselt sie vom Allgäuer Dorfkindergarten an die Blindenschule nach München, wird zum Stadtkind, das sich sicher fühlt in der Großstadt. Sie macht die mittlere Reife, eine Ausbildung zur Bürokauffrau, dann das Fachabitur. Als Leichtathletin holt sie eine Medaille nach der anderen. In den USA, Ungarn, in London und Nancy. Nebenbei bringt sie sich selber Holländisch bei, als Nächstes wollte sie Türkisch und Französisch lernen. In diesen Tagen hätte sie ihre Diplomarbeit abgeben müssen - der Schlusspunkt ihres Sozialpädagogik-Studiums.
Roswitha Rietzler holt die großen, braunen Kuverts, die ihnen aus der Rechtsmedizin zugeschickt worden sind. Alexandras Handtasche ist darin, der Geldbeutel. Alles ist unversehrt, der Blindenstock und die beigen Turnschuhe auch, die die 28-Jährige bei dem Unfall getragen hat. Nur das Handy ist zerquetscht. "Alexandra hatte nur eine Schrecksekunde", erzählt Roswitha Rietzler. Das hat ihr der Pathologe gesagt. "Weil ich wissen wollte, was mit meinem Kind passiert ist, ob es leiden musste", sagt sie. Natürlich male man sich alles Mögliche aus, wenn man weiß, dass im Brust- und Bauchraum der Tochter kein einziges Organ mehr heil ist.
Die etwa 50 Zentimeter breite Kupplungs-Lücke zwischen den beiden letzten Wagen der U 2 hat Alexandra Rietzler das Leben gekostet. Sie hat sie offenbar mit der Tür verwechselt, stürzte zwischen den Waggons aufs Gleisbett, rappelt sich wieder auf, wollte zurück auf den Bahnsteig klettern. In dem Moment fuhr die U-Bahn los, Alexandra Rietzler wurde zwischen Bahnsteig und Zug eingeklemmt. Da sie die Letzte war, die einsteigen wollte, und keine Leute mehr auf dem Bahnsteig waren, hat den Unfall keiner bemerkt.
"Das hätte einfach nicht passieren müssen", sagen Roswitha und Karl Rietzler. Wenn die Lücken zwischen den U-Bahnen - wie bei den neueren Wagen - geschlossen wären. Wenn es Sicherheitspersonal auf den Bahnsteigen gäbe, wie es jetzt, zu Oktoberfestzeiten, auch eingesetzt wird. Oder ein akkustisches Signal, das vor Hindernissen auf den Gleisen warnt.
"Die Technik muss nachgebessert werden", fordert Karl Rietzler. Auf seinem Bauernhof, sagt er, wird jede Schraube einer Maschine kontrolliert. "Da kann es doch nicht sein, dass so grob fahrlässige Fahrzeuge täglich durch München rollen, die Tausende Menschen transportieren. Die müssen höchste Sicherheitsstandards haben."
Günter Pedall, der Chef der Münchner U-Bahnen, hat sich das Bahnsteig-Überwachungsvideo des tragischen Unglücks immer wieder angeschaut. Ein Unfall, wie er sagt, der so noch nie passiert ist. Der bei 108 neuen Wagen in München auch nicht mehr geschehen kann, weil die eng aneinandergekoppelt sind. 580 Wagen aber, die erst im Laufe der nächsten 20 Jahre durch neue ersetzt werden, haben diese Lücke.
Ausgelöst durch den Tod von Alexandra Rietzler haben die U-Bahn-Betreiber in Hamburg und Berlin, München und Nürnberg eine Arbeitsgruppe gebildet, sagt Pedall, um alle Möglichkeiten einer Sicherheitsverbesserung zu prüfen. Denkbar ist die Nachrüstung der Wagen mit einer Art Fühler, die dem Zugführer ein Signal geben, wenn ein Mensch oder Gegenstand aufs Gleis gefallen ist. So wie inzwischen alle Münchner Züge mit sogenannten empfindlichen Türkanten ausgestattet sind, nachdem vor etwa zehn Jahren ein Fahrgast mit dem Fuß in der Tür eingeklemmt wurde - und dabei ums Leben kam.
Vor allem aber, sagt Pedall, möchten sie in Zusammenarbeit mit dem Blindenbund die Blinden besser schulen; ihnen beibringen, dass unter jeder Bahnsteigkante ein mindestens 70 Zentimeter breiter Sicherheitsraum ist. "In den kann man sich hineinrollen, dann ist man sicher", sagt Pedall.
Roswitha und Karl Rietzler haben Strafanzeige gestellt gegen die Stadtwerke München. "Unsere Welt wird das nicht mehr ändern", sagen sie. Doch sie wollen dafür kämpfen, dass die Sicherheit in den Münchner Bahnen für Blinde verbessert wird. Das haben sie Alexandras Freunden auf der Beerdigung versprochen. "Das sind wir unserer Tochter schuldig", sagt Roswitha Rietzler, "ihr Tod soll nicht umsonst gewesen sein."