Gerd Müller erinnert sich noch gut an die Frau aus dem Irak. Sieben Kinder, geflohen vor den Mörderbanden des Islamischen Staates, eher schlecht als recht in einem Flüchtlingslager im benachbarten Libanon untergebracht und trotzdem voller Hoffnung. Auf die Frage, wo denn eigentlich ihr Mann sei, antwortet sie dem Entwicklungsminister aus Berlin mit entwaffnender Offenheit: „Er ist auf dem Weg nach Deutschland. Das ist unsere einzige Chance.“
Dillingen, Stadtsaal. Es sind Beispiele wie das von der jungen Mutter aus dem Irak oder dem Teenager aus Mauretanien, der zwar noch wie im 19. Jahrhundert auf einem Eselskarren sitzt und trotzdem schon ein Smartphone am Ohr hat, mit denen Müller die größte politische Herausforderung der nächsten Jahrzehnte illustriert. „Wenn wir nicht zu ihnen kommen“, sagt er, „dann kommen sie zu uns.“ Alleine in Afrika wachse die Bevölkerung jedes Jahr um 50 Millionen Menschen. „Das sind 50 neue Millionenstädte. Jedes Jahr. Stellen Sie sich das mal vor.“
Wahlkampf mit dem Entwicklungsminister: Das ist, wie hier in Dillingen, immer auch ein Exkurs zu den Schattenseiten der Globalisierung. Die allgemeinen Appelle, die Ursachen der Flüchtlingskrise besser zu bekämpfen, werden in Müllers Ministerium sehr schnell sehr konkret. Es unterstützt den Wiederaufbau von Schulen und Siedlungen im Irak genauso wie den Bau einer riesigen Solaranlage in Marokko oder ein Forschungsprojekt im afrikanischen Benin, in dem neue, deutlich ertragreichere Reissorten entwickelt werden.
Zwei Mal wurde Gerd Müller bei wichtigen Posten übergangen
Eine der Reisen, die ihn am meisten aufwühlt, führt ihn im Frühjahr 2014 in den Südsudan. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein 15-jähriges Mädchen später einmal bei der Geburt eines Kindes stirbt, ist dort größer als seine Chance auf einen Schulabschluss. Jedes dritte Kind leidet an Unterernährung, und auf die elf Millionen Einwohner kommen im Südsudan damals gerade noch 180 einheimische Ärzte. Mit verschwitztem Hemd und staubigen Schuhen steht Müller in einem heruntergekommenen, stinkigen Flüchtlingslager in der Hauptstadt Juba und sagt: „Hier blicken Sie in die Hölle Afrikas.“
Unter den Ministern in Merkels Kabinett ist der Allgäuer, wenn man so will, ein Spätberufener. Als Horst Seehofer 2008 nach München geht, um Ministerpräsident zu werden, gilt der Staatssekretär Müller eigentlich als Favorit für dessen Nachfolge im Landwirtschaftsministerium. Seehofer jedoch entscheidet sich für Ilse Aigner und übergeht Müller später noch ein zweites Mal, als er nicht ihn, sondern Gerda Hasselfeldt zur Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe im Bundestag macht.
Umso erstaunter sind daher nicht nur viele Parteifreunde, als der gelernte Wirtschaftspädagoge nach der Wahl 2013 doch noch einer von drei Ministern der CSU wird. Eine türkische Zeitung verwechselt ihn damals gar mit einem prominenten Namensvetter und meldet geradezu verzückt, die Kanzlerin habe mit dem „Bomber der Nation“ einen ehemaligen Fußballstar in ihre Regierungsmannschaft geholt …
Wird Gerd Müller wieder Entwicklungsminister?
So fremd, wie es auf den ersten Blick vielleicht aussieht, ist sein neues Ressort für den Bauernsohn Müller allerdings nicht, schließlich hat der sich auch schon im Agrarministerium mit der Welternährung beschäftigt und unter anderem Projekte für Kleinbauern in Äthiopien, Marokko und anderen Entwicklungsländern finanziert. „Die Bekämpfung des Hungers und der Schutz unserer natürlichen Ressourcen“, sagt er damals in seinem ersten Interview als Minister gegenüber unserer Redaktion, „sind Überlebensfragen der Menschheit.“ Knappe vier Jahre später hat Müller seinem Parteivorsitzenden das Vertrauen doppelt und dreifach zurückgezahlt.
Selbst politische Gegner wie die Grüne Claudia Roth loben den 62-Jährigen für seinen Einsatz, den sogenannten Marshall-Plan mit Afrika zum Beispiel, den er entwickelt hat, oder das von ihm geschmiedete Textilbündnis, in dem sich Hersteller und Händler verpflichtet haben, auf eine umweltverträglichere Produktion zu achten und ihre Näherinnen in Indien, Pakistan oder Bangladesch besser zu bezahlen. Schließlich leiden nach wie vor 800 Millionen Menschen an Hunger, über 700 Millionen gelten als extrem arm – und noch nie waren so viele Menschen auf der Flucht.
Die neue internationale Verantwortung, die der damalige Bundespräsident Joachim Gauck bei der Bundesregierung 2014 anmahnt, interpretiert Müller anders als Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, die ihre Truppe nach Mali und in die Zentralafrikanische Republik schickt. Die Länder, in die er komme, sagt er immer wieder, fragten nicht nach Soldaten, sondern nach Ärzten, Krankenschwestern und Medikamenten. Auch deshalb hat Müller bald seinen Ruf als leicht angegrünter Schwarzer weg. Anders als die Wirtschaftspolitiker redet er nicht vom freien Handel, sondern von fairen Handelsbeziehungen, von Afrikas Ressourcen, die man schützen müsse, und von den ökonomischen Chancen, die sich auch deutschen Unternehmen dort böten. Mit einer schwarz-grünen Koalition, für viele seine Parteifreunde noch immer der leibhaftige Gottseibeiuns, hätte Müller vermutlich die geringsten Probleme – sofern das Entwicklungsministerium bei der CSU bleibt … (Alle News zur Bundestagswahl hier im Blog.)