Strahlend blauer Himmel, Temperaturen knapp über zehn Grad Celsius – so mögen es die Läufer am liebsten. Es sollte ein entspannter Feiertag werden. Jedes Jahr gedenkt der ganze Staat Massachusetts am Patriot’s Day, dem dritten Montag im April, der Geschichte der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung. In Boston, der Stadt, in der mit der „Tea Party“ der Kampf gegen die englischen Kolonialherren seinen Ausgang nahm, sollte der Stadtmarathon einer der Höhepunkte sein. Die Besucher an der Strecke feiern die Sportler noch lange, nachdem der Sieger Lelisa Desisa aus Äthiopien die Ziellinie überquert hat.
Eigentlich herrscht an der Ziellinie in Boston eine Stimmung wie im Fasching
„Ein perfekter Tag für einen Marathon“, denkt auch Jarrett Sylvester, die mit 27 000 anderen Langläufern an den Start geht. Die 26-Jährige aus Boston hat die vergangenen Monate auf dieses Ereignis hintrainiert, das seit 1897 Tradition in ihrer Heimatstadt hat. Jarrett sehnt sich der Zielgeraden im Herzen der Stadt entgegen – der unbestrittene Höhepunkt des Rennens. Wenn kurz vor drei Uhr Mittag die Mehrzahl der Läufer ankommt, herrscht auf dem Copley Square eine Stimmung wie beim Karneval.
Zehntausende Zuschauer feuern die Athleten mit Sprechchören, Trillerpfeifen und Pauken auf den letzten Metern an. Freude pur.
Läuferin nach Boston-Marathon: "Ich dachte, das war Teil des Spektakels."
Plötzlich hört Läuferin Jarrett einen ohrenbetäubenden Knall. „Ich dachte, das war Teil des Spektakels“, erinnert sie sich an ihre erste Reaktion. Wie in Trance läuft sie weiter auf die Ziellinie an der Boylston Street zu. Dann kracht es noch einmal. Sie dreht sich um, sieht eine Rauchsäule aufsteigen und Trümmer durch die Luft fliegen. Panisch rennt sie in die andere Richtung. „In dem Moment habe ich begriffen, was los ist.“ Auf der Ziellinie an Meile 26,2 wartet auf Jarrett und ihre Mitläufer kein Freudenfest, sondern Chaos und Zerstörung.
Das ist der Boston-Marathon
Der Boston-Marathon ist der älteste Stadt-Marathon der Welt.
Mehrere Zehntausend Läufer sind jedes Jahr am Start; die Strecke ist gesäumt von bis zu 500 000 Zuschauern.
Erstmals fand der Lauf am 19. April 1897 statt. 15 Männer nahmen die 24,5 Meilen (etwa 39,43 Kilometer) in Angriff.
Erst 1927 wurde die Strecke auf die Marathon-Distanz von 42,195 Kilometer (26,385 Meilen) verlängert.
Von 1897 bis 1968 fand der Lauf jedes Jahr am 19. April statt, dem Patriot's Day, einem Feiertag im Bundesstaat Massachusetts.
Nachdem der Feiertag offiziell auf den dritten Montag im April gelegt wurde, findet auch der Marathon jedes Jahr an diesem Tag statt.
Zunächst war das Rennen nur Männern vorbehalten; erst seit 1972 durften Frauen sich auch offiziell in die Starterlisten eintragen.
Der Start ist seit 1924 im Bostoner Vorort Hopkinton, zuvor war er in Ashland. Das Ziel ist direkt Downtown in Boston.
Einen Eintrag in das Guinness Buch der Weltrekorde schaffte der Boston-Marathon 1996 bei der 100. Auflage mit 38 708 Teilnehmern.
2011 erzielte der Kenianer Geoffrey Kiprono Mutai die bislang beste Zeit für einen Marathon in 2:03:02 Stunden. Doch die Marke wird nicht als Weltrekord anerkannt. Grund ist, dass die Strecke nicht dem offiziellen Reglement entspricht.
2013 wurde der Boston Marathon von einem Anschlag erschüttert. Viele Menschen starben oder wurden verletzt.
Die zwei Bomben explodieren nicht einmal 20 Sekunden hintereinander und in gut 100 Meter Entfernung voneinander im Zuschauerbereich längs der Zielgeraden. An den Orten der beiden Explosionen füllen Blutlachen die Plätze, auf denen die Zuschauer eben noch ausgelassen feierten. Menschen rennen in alle Himmelsrichtungen. Schreien. Weinen. Im Schock. Darunter mischen sich die Sirenen und das Blaulicht der Ambulanzen. Rettungshelfer reißen die Metallbarrieren weg, um zu den Opfern zu gelangen.
Überall liegen abgerissene Gliedmaßen. Hier ein Fuß, da eine Hand. Die Kinderärztin Natalie Stavas kniet neben einem Mann, der sein Bein verloren hat. Mit einem Gürtel versucht sie die Blutung zu stoppen. „Er war im Schock“, beschreibt Natalie die bizarre Situation, in der das Opfer versichert: „Ich bin o.k., ich bin o.k.“ Die Krankenwagen transportieren die Verletzten im Minutentakt in die umliegenden Spitäler. Glück im Unglück, dass Boston vermutlich das dichteste Netz an hochkarätigen Krankenhäusern in der Nation hat. Mehr als 176 Menschen müssen dort mit zum Teil lebensbedrohenden Wunden behandelt werden. Darunter viele Kinder, die am Patriot’s Day freihaben und mit ihren Eltern traditionell am Morgen zum Baseballspiel der Red Sox und dann zum Finale des Boston-Marathon gehen. Für den achtjährigen Richard Martin kommt jede Hilfe zu spät. Er stirbt an seinen schweren Verletzungen, nachdem er gerade noch seinen Vater Bill umarmt hat. Dieser war eben durch die Zielgerade gelaufen – Richard hat ihm gratuliert und ist dann zur Mutter an den Straßenrand zurückgekehrt. Seine Schwester verliert ein Bein, sie kämpft wie die Mutter um ihr Leben. Auch zwei andere Zuschauer sind an Ort und Stelle tot. Zwei Brüder stehen unmittelbar am Ziel – beide verlieren ein Bein.
25-Jähriger aus Eching lief beim Boston-Marathon
Mit der Startnummer 858 ist Gregor Hackfort auf die Strecke gegangen. Der 25-Jährige aus Eching (Kreis Landsberg) ist zum Zeitpunkt des Anschlags bereits im Ziel: In 2:57:42 Stunden hat er die Strecke bewältigt. Was er danach erlebt hat, darüber haben seine Eltern gestern noch nichts mitteilen können. „Er hat uns direkt nach dem Zieleinlauf eine SMS geschickt, dass es ihm gut geht“, erzählt seine Mutter Gisela Hackfort. Danach herrscht Funkstille und seine Eltern durchleben in Eching bange Stunden, bis sich ihr Sohn wieder per SMS meldet – bei ihm ist alles in Ordnung.
„Wir werden der Sache auf den Grund gehen“, verspricht US-Präsident Barack Obama, der sich an die geschockte Nation wendet, die seit dem 11. September 2001 keinen geglückten Terroranschlag auf heimischem Boden mehr erlebt hat. Das Weiße Haus veröffentlicht Fotos, sie zeigen, wie Obama mit FBI-Chef Robert Müller telefoniert. Die Botschaft an die Amerikaner ist klar: Der Präsident kümmert sich.
Über Nacht verwandelt sich das sonst lebhafte Zentrum von Boston in eine Geisterstadt. Die Polizei riegelt die historische Bay Area mit ihren quirligen Restaurants und Geschäften weiträumig ab. Nicht einmal die Reinigungskolonen bekommen Zutritt, um die plattgetretenen Bananenschalen der Läufer, Pappbecher und anderen Müll wegzuschaffen. In dem Unrat könnten sich Hinweise auf die Tat finden.
Bürgermeister Thomas M. Menino mahnt die geschockten Bostonians, Ruhe zu bewahren. „Niemand sollte wegen der Nationalgarde und anderer bewaffneter Beamten alarmiert sein.“ Die Stadt bleibt geöffnet, aber nichts wird wie immer sein. Von der Symphonie in Boston bis zum Spiel der Celtics sagen die Verantwortlichen alle öffentlichen Veranstaltungen ab.
Eishockeyspieler aus dem Allgäu besucht in Boston Verwandte
„Die ganze Stadt steht unter Schock“, berichtet der im Allgäu lebende US-amerikanische Eishockeyspieler Jim Nagle (ECDC Memmingen, EV Lindau). Der 37-Jährige, der mit der Familie in Buxheim (Unterallgäu) wohnt, kommt aus Boston. Er ist seit Samstag mit seiner vierjährigen Tochter Caylee auf Verwandtenbesuch in seiner Heimatstadt. Mit Brüdern und Freunden war er während des Anschlags in der Innenstadt unterwegs, wegen der kleinen Tochter aber haben die Männer diesmal einen weiten Bogen um das Getümmel rund um den Zieleinlauf gemacht.
Vorübergehend ruht der Luftverkehr über der Stadt. Auch in Washington und New York verstärken die Behörden die Sicherheit. Der Secret Service riegelt das Weiße Haus ab. In Manhattan stockt die Polizei ihre Präsenz an symbolischen Orten, vor Hotels und Touristenattraktionen sichtbar auf. Wie viele Amerikaner ringt Paul Thompson am Tag nach dem Anschlag mit der Frage nach dem Warum. Der Bostoner Sport-Kardiologe und Marathonveteran kann den feigen Akt nicht nachvollziehen. „Diese Leute waren total unschuldig“, sagt er. „Sie waren nicht im Kampfeinsatz.“ Leider werde dieses Ereignis nun für immer mit dem Bostoner Marathon verbunden sein.
Die Bostonians versuchen trotzdem, das Beste aus der Situation zu machen. Spontan öffnen Bürger ihre Häuser und Wohnungen für gestrandete Läufer. Überall gibt es Plätze zum Aufladen von Handys. Das Rote Kreuz richtete eine „Safe and Well“-Seite im Internet ein, damit Angehörige, die sich verloren haben, Kontakt aufnehmen können. Die Krankenhäuser müssen freiwillige Blutspender zurückweisen, weil sie dank des Ansturms zurzeit mehr als genug Reserven haben.
„Die Stimmung mag gedrückt sein, aber unterkriegen lassen sich die Bostonians nicht“, meint David Callaway, Chefredakteur der USA Today, der in Boston aufwuchs. Der Freiheitswillen sei heute so stark wie während der ersten Unabhängigkeitsschlachten von Lexington und Concord, derer am Patriot’s Day gedacht wird. „Wie die New Yorker vor mehr als zehn Jahren werden wir stärker denn je wiederkommen und denen die Stirn bieten, die unsere Freiheit angegriffen haben.“