Um ihn ging es gar nicht. Helmut Kohl stand nicht zur Wahl. Und doch war das Ergebnis eindeutig: Der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland war der Sieger der ersten freien und geheimen Volkskammerwahl in der DDR vor einem Vierteljahrhundert. Als am Abend des 18. März 1990 im „Palast der Republik“ am Ostberliner Marx-Engels-Forum, dem Sitz der Volkskammer, die ersten Hochrechnungen über die Monitore flimmerten, war die Überraschung perfekt.
Die favorisierte SPD, die in allen Umfragen bis zuletzt in Führung gelegen hatte, erhielt lediglich 21,9 Prozent der Stimmen, die mutigen Bürgerrechtler vom Neuen Forum und anderen DDR-Oppositionsgruppen, die sich im „Bündnis 90“ zusammengeschlossen hatten, kamen gar nur auf enttäuschende 2,9 Prozent, während die PDS, die Nachfolgerin der abgewirtschafteten Staatspartei SED, immerhin bei 16,4 Prozent landete. Die von Helmut Kohl geschmiedete „Allianz für Deutschland“ hingegen, die aus der früheren DDR-Blockpartei CDU, der Oppositionsgruppe „Demokratischer Aufbruch“ (DA) und der von der bayerischen CSU unterstützten „Deutschen Sozialen Union“ (DSU) bestand, kam zusammen auf 48,0 Prozent und verfehlte mit 192 von 400 Mandaten nur knapp die absolute Mehrheit – und das bei einer Wahlbeteiligung von 93,4 Prozent.
Helmut Kohl drückte aufs Tempo
Vier Monate nach dem Fall der Mauer gab es keine Zweifel mehr: Die DDR-Bürger wollten die deutsche Einheit und den Anschluss an die Bundesrepublik – und sie wollten dies so rasch wie möglich. Weder hatten sie Interesse am Fortbestand einer demokratisierten Reform-DDR ohne SED noch an einem „dritten Weg“ zwischen Sozialismus und Kapitalismus, wie dies vor allem die Bürgerrechtsgruppen um Bärbel Bohley forderten. Während der westdeutsche SPD-Chef und Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine öffentlich einen schnellen Beitritt der DDR ablehnte und vor den Kosten der Einheit warnte, drückte Bundeskanzler Helmut Kohl aufs Tempo. Auf ihren Plakaten versprach die CDU mit ihrem Spitzenkandidaten Lothar de Maizière nicht nur „Wir sind ein Volk“, sondern auch „Wohlstand für alle“. Das war es, was die Menschen zwischen Ostsee und Vogtland, Oderbruch und Eichsfeld im Frühjahr 1990 hören wollten. Sie wollten so leben wie die Deutschen im Westen, und das so schnell wie möglich. Und der Einzige, der diesen Wunsch erfüllen konnte, war in ihren Augen Helmut Kohl.
Ursprünglich sollten die ersten freien Wahlen am 6. Mai stattfinden. Doch der Zerfall der DDR war nicht aufzuhalten, die staatlichen Organe waren nach 40 Jahren Diktatur diskreditiert, es herrschte eine gewisse Anarchie, der Massenexodus in den Westen hielt unvermindert an, die Versorgungslage spitzte sich zu, die von dem SED-Reformer Hans Modrow geleitete „Regierung der nationalen Verantwortung“ hatte keine demokratische Legitimation. Auf Antrag der SPD wurden die Wahlen daher am 28. Januar 1990 auf den 18. März vorgezogen, die Sozialdemokraten mit ihrem Vorsitzenden Ibrahim Böhme erhofften sich durch die verkürzte Zeit Vorteile, auch die SED-Nachfolgerin PDS stimmte dafür, konnte sie sich doch auf ihren noch immer bestehenden Apparat und ihre das gesamte Land abdeckenden Strukturen stützen. CDU und FDP hatten dagegen Probleme, es fehlte ihnen an starken und schlagkräftigen Partnerparteien in der DDR. Daher kooperierten sie mit den alten Systemparteien CDU und LDPD, die 40 Jahre treu an der Seite der SED gestanden waren und als „Blockflöten“ verspottet wurden. Doch damit verfügten auch sie über einen Parteiapparat, über Strukturen und Mitglieder.
Wahlkampf nach West-Schema
Der kurze, aber intensive Wahlkampf wurde von den Parteizentralen im Westen organisiert und gesteuert. Allein CDU und CSU führten etwa 400 Veranstaltungen mit 80 Spitzenpolitikern durch, West-Kreisverbände übernahmen Patenschaften für DDR-Verbände und statteten diese mit Technik und Material aus. Zu den Auftritten von Bundeskanzler Helmut Kohl in Erfurt, Chemnitz und anderen Großstädten kamen hunderttausende DDR-Bürger, für die SPD mobilisierte Alt-Kanzler Willy Brandt die Massen, die FDP hatte mit dem gebürtigen Hallenser Hans-Dietrich Genscher ein Zugpferd. Dem hatten die Bürgerrechtler, die maßgeblich zum Sturz des SED-Regimes beigetragen hatten, nichts entgegenzusetzen.
Helmut Kohl wertete das Ergebnis der Volkskammerwahl als Ermutigung wie Auftrag, seinen Kurs, der auf eine rasche Herstellung der Einheit zielte, fortzusetzen. „Mein Weg in Richtung deutsche Einheit hatte nunmehr vor aller Welt seine Bestätigung durch die Menschen in der DDR selbst erfahren“, schrieb er in seinen Erinnerungen. Schon drei Tage später traf er sich mit Lothar de Maizière in Bonn, um mit dem designierten DDR-Regierungschef das weitere Vorgehen zu besprechen. Am 12. April nahm die neue Regierung in Ostberlin ihre Arbeit auf, die nur ein Ziel hatte: Sich selbst und ihren Staat geordnet aufzulösen.