München Im Gefängnis sind 39 Jahre eine lange Zeit. Zur Qual können schon wenige Tage werden, wenn man unschuldig in Haft sitzt. So wie die 130 Menschen in Bayern, die dafür 2008 vom Freistaat entschädigt wurden. Sie haben zusammen genommen eben diese 39 Jahre zu Unrecht in Haft verbracht. Pro Person sind das im Schnitt 111 Tage.
Vergleichsweise glimpflich scheint angesichts dieser Zahlen Stephan Schober davongekommen zu sein. Der fränkische Lkw-Fahrer saß 25 Tage unschuldig im Nürnberger Gefängnis. Hintergrund war ein Bagatellunfall. Schober sagt als Zeuge aus - und wird, da die Unfallgegnerin etwas Gegenteiliges behauptet, noch im Gerichtssaal wegen uneidlicher Falschaussage und Verdunklungsgefahr festgenommen. Für Schober beginnt ein Albtraum, der erst mit einem Gutachten endet, das ihn entlastet.
Sein Fall macht Schlagzeilen. Die Tatsache, dass er kein Einzelfall ist, dagegen kaum. Das liegt unter anderem daran, dass die bundesweite Statistik über Entschädigungsleistungen 1998 eingestellt wurde: Die Zahlen tauchen fast nirgendwo auf.
Christine Stahl, Vizepräsidentin des Bayerischen Landtags und Abgeordnete der Grünen, hat sie trotzdem gefunden. Sie war stutzig geworden, als im bayerischen Doppelhaushalt 2009/2010 für "Entschädigungen an Beschuldigte in Strafsachen" jeweils 5,3 Millionen Euro veranschlagt worden waren - eine auf den ersten Blick stattliche Summe, die sie zu einer parlamentarischen Anfrage veranlasste. Die Antwort gab zwar Aufschluss darüber, dass der Millionenbetrag nicht nur für Entschädigungszahlungen verwendet wird, sondern auch für Auslagen von Beschuldigten, die von der Staatskasse zu tragen sind. Was aber blieb, waren 130 Menschen, die zusammen mehr als 39 Jahre zu Unrecht im Gefängnis saßen.
"Man kann einen Tag Freiheitsentzug nicht aufrechnen", sagt Stahl und fragt: "Wie viel kostet ein Tag erlittenes Unrecht?" Das Strafentschädigungsgesetz gibt eine eindeutige Antwort: elf Euro pro Tag.
"Die Haftentschädigung ist dabei das eine. Aber es kommt noch ein Haufen anderer Schäden dazu", gibt Stahl zu bedenken. Der Verdienstausfall zum Beispiel, die Anwaltskosten, der oft dauerhaft zerstörte Ruf. Auch Stahl ist der Überzeugung, "dass der Staat Sicherheiten garantieren muss - nach allen Seiten". Oft sei aber Angst die Triebfeder eines zunehmenden Freiheitsabbaus: "Sicherheit geht vielen vor."
Das schnelle Mittel der Untersuchungshaft
2007 zahlte der Freistaat gut 400 000 Euro an Entschädigungen für zu Unrecht erlittene Freiheitsstrafen und für andere Strafverfolgungsmaßnahmen. In Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsreichsten Bundesland, waren es im gleichen Zeitraum 172 000 Euro. Stahl schließt daraus, dass in Bayern besonders schnell zum Mittel der Untersuchungshaft gegriffen wird - auch weil es oft zu wenig Personal gebe, um die Einzelfälle zu prüfen.
Tatsächlich, so Stefan Lenzenhuber, Sprecher des bayerischen Justizministeriums, handele es sich bei den zu Unrecht Inhaftierten meist um vorläufige Festnahmen oder eine Untersuchungshaft, die sich im Nachhinein als haltlos erweist. Doch längst nicht immer, weil Haftrichter und Staatsanwalt Fehler gemacht hätten. Er nennt als Beispiel die Frau, die einen Mann der Vergewaltigung bezichtigt. Weil dringender Tatverdacht, vielleicht auch Flucht- oder Wiederholungsgefahr besteht, wird er in Untersuchungshaft genommen - bis sich herausstellt, dass die Frau gelogen hat. Hinzu kämen Fälle, in denen es zwar erhebliche Verdachtsmomente gebe, jedoch im Zweifel für den Angeklagten entschieden werde. Will heißen: Mancher wird als Unschuldiger aus der U-Haft entlassen, obwohl er so unschuldig vielleicht gar nicht war.
Früher, sagt Stephan Schober, hätte er die Frage, ob er dem Rechtsstaat vertraut, bejaht. Heute ist er sich da nicht mehr so sicher. "Ich bin vielleicht noch einer, der glimpflich davongekommen ist", glaubt er. Dafür, dass Fehler - so bedauerlich sie auch sein mögen - passieren, hat er Verständnis. Dafür, dass sich bis heute niemand bei ihm entschuldigt hat, aber nicht.