Auch als Marina klar wird, dass sie mit Männern für Geld schlafen soll, träumt sie noch den Traum eines kleinen Mädchens. Sie will einmal ein schönes Haus in ihrem Heimatland Rumänien und Kinder mit ihrem Freund. Das Geld dafür will die 16-Jährige in Deutschland verdienen. Ihr Freund hat ihr einen Job in einem Restaurant organisiert - zumindest hat der 30-Jährige das so gesagt. Doch kaum sind die beiden in Berlin angekommen, eröffnet er ihr, was sie wirklich tun soll: Sie soll ihren Körper verkaufen.
Marina ist kein Einzelfall. Hunderte von Mädchen und Frauen werden in Deutschland zur Prostitution gezwungen. Die Politik hat das Problem erkannt - die schwarz-rote Bundesregierung will nun das Prostitutionsgesetz verschärfen, so steht es im Koalitionsvertrag. Auch der Bundesrat macht sich für eine Reform stark. Frauenministerin Manuela Schwesig (SPD) kündigte kürzlich eine Expertenanhörung im Juni an. Doch einfache Lösungen gibt es nicht, wie das Beispiel Marina zeigt.
Die 16-Jährige reagiert geschockt auf den Vorschlag ihres Freundes. Sie versucht sich zu weigern, doch er baut Druck auf. Sie soll es für ihn tun, oder liebt sie ihn etwa nicht mehr? Außerdem hat er Fotos von ihr, wie sie nackt posiert. Da er ihr Freund ist, hat sie sich von ihm fotografieren lassen - aus Spaß, wie sie dachte. Er droht, die Fotos auf Facebook zu stellen. Die 16-Jährige willigt schließlich ein. Ihr Leben als Escort-Hure in Berlin beginnt.
Die Männer konnten sie im Internet buchen
"Wir sprechen hier nicht von Luxus-Escort", sagt Margarete Muresan von der Hilfsorganisation In Via. Sie erzählt die Geschichte von Marina, die eigentlich anders heißt. Muresan hat das Mädchen bei ihrem Weg aus der Zwangsprostitution betreut. Marina hat ihre Freier nicht ins Theater oder zum Essen begleitet. Es ging nur um Sex. Die Männer konnten sie im Internet buchen, für eine halbe Stunde oder für die ganze Nacht, für zu Hause oder fürs Hotelzimmer.
Diese Form der Prostitution ist besonders gefährlich, weil die Frauen leicht in bedrohliche Situationen kommen, ohne dass es zum Beispiel - wie in vielen Bordellen - einen Türsteher gibt, der dazwischen gehen kann. In Privatwohnungen und Hotels sind die Frauen außerdem für Polizei und Hilfsorganisationen unsichtbar, anders als etwa auf dem Straßenstrich.
Marina bekommt ein Prepaid-Handy ohne Guthaben. Sie muss 24 Stunden am Tag für die Freier erreichbar sein, sie selbst kann aber niemanden anrufen. Die Kunden werden über eine Agentur vermittelt, mit der Marinas Freund zusammenarbeitet. Die Agentur ruft bei ihr an, sobald sich ein Freier meldet, Marina trifft die Männer in ihren Wohnungen oder in Hotelzimmern. Oft bringt ihr Freund sie dorthin.
Er ist ständig präsent, kontrolliert das Mädchen. Wenn Marina mit ihrer Mutter telefoniert, ist er im Raum. Sie lügt dann, wie gut es ihr in Deutschland geht. Er kauft auch Kleidung für sie ein und nimmt ihr den Ausweis weg. Das Geld, das sie verdient, muss sie an ihn abgeben. Er teilt es dann zwischen sich und der Agentur auf. Die 16-Jährige bekommt nichts.
Die Arbeit strengt sie immer mehr an - körperlich und psychisch. In Rumänien ist Prostitution verpönt, Marina schämt sich. Sie will nicht mehr so oft mit Männern schlafen müssen. Da hilft ihr Freund mit Schlägen nach. Später gibt er ihr Kokain, damit die 16-Jährige länger durchhält.
Für 2012 zählt der Lagebildbericht des Bundeskriminalamts (BKA) 612 Opfer von Zwangsprostitution. Die Dunkelziffer dürfte aber um ein Vielfaches höher liegen. Es gebe keine Zahlen, die die tatsächliche Dimension widerspiegeln, bestätigt Anna Hellmann, Referentin für Frauenhandel bei der Frauenrechtsorganisation Terre des femmes. Zwangsprostitution ist ein sogenanntes Kontrolldelikt, wie es im BKA-Bericht heißt. Das bedeutet, dass viele Fälle erst durch Kontrollen der Polizei auffliegen.
Weniger häufig wenden sich die Frauen von sich aus an die Polizei. Sie haben oft Angst vor ihren Zuhältern, die sie schlagen. Oder Angst, dass sie Ärger mit dem Gesetz bekommen. Sie wissen nicht, dass Prostitution in Deutschland erlaubt, Zwangsprostitution jedoch illegal ist. Dass also nicht sie es sind, die sich strafbar machen, sondern diejenigen, die sie zwingen, ihren Körper zu verkaufen.
Die meisten Zwangsprostituierten landen in Bars und Bordellen
Laut BKA-Lagebericht arbeiteten 2012 die meisten Zwangsprostituierten in Bars und Bordellen (50 Prozent), in Privatwohnungen (32 Prozent) oder auf dem Straßenstrich (13 Prozent). Wenige landen im Escort-Bereich (5 Prozent). Gut jedes zweite Opfer war jünger als 21 Jahre alt, etwa jedes sechste minderjährig. 46 Prozent der Frauen und Mädchen waren Rumäninnen oder Bulgarinnen, 21 Prozent Deutsche.
Marina hat ihren Freund in Rumänien über Facebook kennengelernt. Sie chatten, flirten, er macht ihr Komplimente. Beraterin Muresan kann sich vorstellen, dass er sie gezielt angeschrieben hat. Nach einiger Zeit erstirbt jedoch der Facebook-Kontakt - dann treffen sich die beiden zufällig in der Stadt, in der sie lebt. Dass sie eine Beziehung zu einem sehr viel älteren Mann eingeht, scheint niemanden zu stören. Marinas Vater ist tot, mit ihrer Mutter spricht sie nicht über ihre Pläne, nach Deutschland zu gehen. Erst als sie schon in Berlin ist, sagt sie ihr Bescheid.
Auf der politischen Ebene hat die Union ein Eckpunktepapier vorgelegt, das die SPD weitgehend mitträgt. Darin steht zum Beispiel, dass die Polizei Bordelle auch ohne Verdacht kontrollieren können soll, oder dass die Häuser bestimmte Auflagen erfüllen müssen, sonst bekommen sie keine Zulassung.
Allerdings bezweifeln einige Hilfsorganisationen, ob Mädchen und Frauen wie Marina mit solchen Schritten geholfen wäre. Wer Bordelle stärker kontrolliert, riskiert, dass noch mehr Frauen in schwer zugänglichen Bereichen wie Escort landen - so lautet eine Position.
Marinas Beraterin Muresan betont außerdem: "Es gibt einen Unterschied zwischen Prostitution und Menschenhandel." Nicht jede Prostituierte sei auch gleich eine Zwangsprostituierte. Muresan ist zwar dafür, dass das Gesetz verbessert wird, um das Leben von Prostituierten insgesamt zu erleichtern. Jedoch müsse klar sein: "Bekämpfung von Menschenhandel und Änderung des Prostitutionsgesetztes sind immer noch zwei unterschiedliche Sachen."
So ähnlich sehen das auch die Prostituiertenvereinigungen. "Alles in allem ist das vorgelegte Eckpunktepapier ein Sammelsurium von sinnloser Symbolpolitik, kontraproduktiven Ungeheuerlichkeiten und halbherzigen Verbesserungen", schreibt etwa der Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen auf seiner Homepage. Mehr Befugnisse für die Polizei lehnt der Verband ab.
Eine ganz andere Position vertritt die Hilfsorganisation Solwodi, die wie In Via Zwangsprostituierte berät und ihnen aus ihrer Lage hilft. Seit Einführung des Prostitutionsgesetzes 2002 hätten immer mehr Bordelle in Deutschland eröffnet, erklärt Schwester Lea Ackermann von dem Verein. "Man sagt ja nicht ganz zu Unrecht, Deutschland ist das Prostitutionsland Europas." Solwodi fordert mehr Razzien in Bordellen und besser ausgebildete Polizisten.
Auf Marina wird die Polizei nicht aufmerksam. Das Ende ihrer Leidensgeschichte beginnt mit einer bitteren Erkenntnis: Nach Monaten in Berlin findet sie heraus, dass ihr Freund auch andere Mädchen zu Männern schickt. Dass er auch anderen ein Haus verspricht, eine Familie, eine gemeinsame Zukunft.
Jetzt reicht es der jungen Frau. Als er für ein paar Tage die Stadt verlässt, nimmt Marina Reißaus. Der Aufpasser, den ihr Freund auf sie angesetzt hat, ist unachtsam. Sie läuft weg, erstattet Anzeige bei der Polizei. Es kommt zu einem Prozess, Marina muss gegen ihren Freund aussagen. Er wird zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt.
Marina hat nichts Illegales getan
Und Marina? Die Opfer müssen in Deutschland besser betreut werden - da sind sich die Hilfsorganisationen einig. Dazu brauchen sie mehr Geld. Außerdem sollen Zwangsprostituierte aus Nicht-EU-Ländern mehr Chancen bekommen, in Deutschland bleiben zu dürfen.
Im Koalitionsvertrag steht recht schwammig, das Aufenthaltsrecht solle für die Opfer verbessert werden - unter Berücksichtigung ihrer Mitwirkung im Strafverfahren. Für die Helfer zu wenig: "Das ist bereits der Status Quo", kritisiert Anna Hellmann von Terre des femmes. Sie fordert einen Aufenthaltstitel für die Opfer, unabhängig davon, ob sie mit der Polizei zusammenarbeiten oder nicht. Nur dann könnten die Frauen tatsächlich geschützt werden. Ihre Menschenrechte seien in Deutschland verletzt worden - der Staat habe also eine Schutzpflicht gegenüber den Betroffenen.
Die Politik lenkt zumindest ein wenig ein. Momentan berät die Regierung über einen Reformvorschlag des Innenministeriums zum Aufenthaltsgesetz. Opfer von Menschenhandel könnten demnach auch nach Ende eines Strafverfahrens auf Aufenthalt hoffen.
Marina ist Rumänin, also EU-Bürgerin, und darf in Deutschland bleiben. Sie hat außerdem nichts Illegales getan. Sie versucht nun, Deutsch zu lernen und einen Job zu finden. Vielleicht kann sie hier eine Ausbildung machen? Nach Rumänien zurück will sie zunächst nicht - dort hätte sie kein Geld, und sie müsste die psychische Last tragen, in Deutschland ihren Körper verkauft zu haben. Damit müsste sie in ihrem Heimatland fertig werden. Alleine. dpa