Sie feiern und sie trinken. Dann schlagen sie, treten und prügeln. Sie sind zu sechst. Am Ende liegt ein Jugendlicher bewusstlos am Boden. Wenig später ist er tot. Jonny K. stirbt im Alter von 20 Jahren. Dabei wollte er nur einen Freund beschützen in jener Nacht auf dem Alexanderplatz in Berlin.
Erinnerungen an Jonny K.
Unter einem grün-schwarzen Gartenpavillon erinnern brennende Kerzen und frische Blumen an die Nacht des 14. Oktobers 2012. An dem Ort, an dem Jonny K. aus dem Leben geprügelt wurde. An dem er sich vor einen Freund stellte. An dem er Zivilcourage zeigte. Wo er zur falschen Zeit am falschen Ort war. Der Schüler, Sohn einer Thailänderin und eines Deutschen. Der in seiner Freizeit am liebsten Fußball und Playstation spielte.
Immer wieder bleiben Passanten vor dem Pavillon stehen. Sie betrachten Jonny K.’s junges Gesicht, das ihnen von Fotos entgegenblickt. Eine Frau um die 40 starrt reglos auf die Flammen der Kerzen. „Wenn sie es doch wenigstens gestehen würden“, sagt sie mehr zu sich selbst. Der Mann neben ihr beißt in die Waffel seines Eises. „Ich bin gespannt, wie es ausgeht“, sagt er. Er schultert seinen Rucksack und verschwindet im Strom der Passanten.
Am Donnerstag hat der Prozess um den Tod Jonny K.’s zum zweiten Mal begonnen. Der erste Durchgang war abgebrochen worden. Ein wichtiger Zeuge konnte sich vor Gericht nicht mehr an die Geschehnisse erinnern. Ein Schöffe ertrug das Schweigen nicht. „Sind Sie zu feige, eine Aussage zu machen, oder wollen Sie uns verarschen?“, rief er. Kurz danach veröffentlichte die Berliner Zeitung B.Z. ein Interview mit ihm. Darin äußerte er sich negativ über die Verteidiger. Der Schöffe bestreitet, dies jemals gesagt zu haben. Die Zeitung hält an ihrer Darstellung fest. Es steht Aussage gegen Aussage. Doch für den Prozess ist der Schöffe nicht mehr tragbar.
Der zweite Anlauf vor Gericht
Die Verhandlung beginnt also wieder von vorne. Mit anderen Schöffen und diesmal auch Ersatzpersonal – für alle Fälle. Wieder sitzen sechs Männer im Alter von 19 bis 24 Jahren auf der Anklagebank im Berliner Landgericht. Wieder beteuern sie, dass sie den Tod Jonnys nicht gewollt haben. Dass ihnen das, was passiert ist, leidtue. Und wieder stehen die Fragen im Raum: Wer hat zuerst zugeschlagen? Wer hat Jonny zu Boden geprügelt? Wer hat den tödlichen Hieb versetzt?
Berlin, Alexanderplatz. „Alex“, wie ihn die Berliner nennen. Nicht nur wegen der tödlichen Prügelei im Oktober wird der Platz mit gewalttätigen Jugendlichen verbunden. Nur eine Woche vor der Attacke gegen Jonny gab es eine Schießerei, bei der ein 23-Jähriger lebensgefährlich verletzt wurde. Und erst kürzlich meldete die Polizei wieder eine blutige Schlägerei. Zwei junge Frauen hatten eine 17-Jährige krankenhausreif geprügelt.
Ulf Kahle-Siegel ist Sozialarbeiter. Am Telefon hat er sich als klein und ein wenig untersetzt beschrieben, so könne man ihn vielleicht erkennen, an seinem Lieblingsplatz auf dem Alex, der Weltzeituhr. Er mag es, die Leute hier zu beobachten. Er mag es, den Musikern zu lauschen, den vielen unterschiedlichen Klängen. „Jeden Tag läuft eine Großstadt über den Alexanderplatz – von links nach rechts“, sagt er und lächelt. Hier treffen S-, U- und Regionalbahn zusammen. Touristen bestaunen den Fernsehturm, der neben dem Alex in den Himmel ragt. Das Einkaufszentrum und die Geschäfte ringsum sind beliebte Shoppingziele. Auch Nachtschwärmer treffen sich hier oder steigen um zum nächsten Klub.
Alexanderplatz sonst nicht prädestiniert für Gewalttaten
Kahle-Siegel, 50, arbeitet seit fast 20 Jahren für den Verein „Gangway“. Er betreut junge Leute im Alter zwischen 14 und 27 Jahren, „die ihre Freizeit auf der Straße verbringen“. Seit zehn Jahren gehört auch der Alex zu seinem Einsatzbereich. Als besonders gefährlich schätzt Kahle-Siegel den Platz nicht ein. An den Gewalttaten, die ihn in die Schlagzeilen gebracht haben, seien auch nicht die Jugendlichen beteiligt gewesen, die sich dort regelmäßig treffen, betont er. „Unsere Wahrnehmung ist, dass das, was hier passiert ist, überall in Berlin hätte passieren können.“
Was aber geschieht da, in den Nächten wie jener, die Jonny das Leben kostete? Wenn Jugendliche scheinbar aus dem Nichts auf Fremde einprügeln? Auf ihr Opfer eintreten, auch wenn es schon am Boden liegt? Die Kriminalstatistik sagt, die Gewaltdelikte Jugendlicher in Berlin seien 2012 im Vergleich zum Vorjahr sogar zurückgegangen. Der Anteil an allen Straftaten war der niedrigste Wert seit 1991. Aber sind die wenigeren Fälle dafür umso gewalttätiger? Oliver Heide vom Landeskriminalamt Berlin sagt nein.
Aber das Verständnis von Fairness habe sich verändert: „Früher, wenn einer am Boden lag, hat man aufgehört.“ Heute werde stattdessen noch einmal nachgetreten. „Aber das sind Einzelfälle. Und die fallen auf.“ Die Jugendlichen verabreden sich auch nicht gezielt, um eine Straftat zu begehen, sagt er. „Sie wissen nicht, was sie unternehmen sollen.“ Langeweile, Alkohol – „das kann schnell eskalieren“. Dann reicht ein falsches Wort, ein falscher Blick. „Heute muss man überall damit rechnen, Opfer einer Straftat zu werden“, sagt auch Kahle-Siegel.
Jonny K. war ein Zufallsopfer
Ein Zufallsopfer. Wie Jonny. Die sechs Angeklagten, von denen nur noch zwei in Untersuchungshaft sitzen, erscheinen pünktlich vor Gericht. Sie tragen Hemden, ihr Äußeres wirkt gepflegt. Und, wie der Vorsitzende Richter zu Beginn der Verhandlung festhält: Alle wohnen noch bei ihren Eltern. Dass sie an der Prügelei beteiligt waren, bestreiten sie nicht. Alle geben an, eine Menge Alkohol getrunken zu haben. Aber keiner übernimmt die Verantwortung für Jonnys Tod. Sie entschuldigen sich bei den Hinterbliebenen. Sie vermeiden es, Jonnys Schwester Tina, die auf der Seite der Nebenkläger sitzt, in die Augen zu schauen. Vier der Angeklagten wird Körperverletzung mit Todesfolge zur Last gelegt, zweien gefährliche Körperverletzung.
„Ich möchte deutlich sagen, dass ich mit dem Tod von Jonny nichts zu tun habe, aber es lässt mich nicht kalt und ist mir alles andere als egal“, liest der Hauptverdächtige Onur U. seine schriftliche Erklärung vor. Dann folgt eine Erkenntnis, die er aus den Aussagen des Gerichtsmediziners während des geplatzten Verfahrens gezogen hat. Onur U. sagt: „Es ist krass, wie wenig ausreichen kann, um aus einem Schlag, Tritt oder Sturz eine tödliche Verletzung werden zu lassen.“
Das ist Berlin
In der deutschen Hauptstadt leben knapp 3,5 Millionen Einwohner. Seit gut zehn Jahren ist Berlin auch wieder Sitz von Regierung und Parlament.
Zu den Top-Sehenswürdigkeiten zählen das Brandenburger Tor, der Reichstag und der Berliner Dom.
Seit Jahren leidet die Hauptstadt unter notorischer Geldnot. Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit beschrieb die Metropole einmal als "arm, aber sexy."
Für Aufregung sorgten in Berlin zuletzt mehrere Brandanschläge auf Autos. Die Täter sollen aus der links-extremen Szene kommen.
Bundesweit für Aufsehen sorgte ein Brandbrief des Lehrerkollegiums der Rütli-Schule im Stadtteil Neukölln. Das Thema Gewalt an Berliner Schulen rückte schlagartig in den Fokus der Öffentlichkeit. Seither arbeiten die Brennpunktschulen der Hauptstadt an ihrem Image.
Einmal im Jahr verwandelt sich Berlin in die Hauptstadt des Films. Die Berlinale gehört mittlerweile zu den renommiertesten Filmfestspielen der Welt.
An Bedeutung gewinnt auch die alljährliche Fashion Week in der Hauptstadt. Immer mehr bekannte Designer reisen mit ihren Modekreationen an die Spree.
Besondere Anziehungskraft scheint die Millionen-Metropole seit jeher für Kunstschaffende zu haben. Die Künstlerszene blüht in der Hauptstadt - so wie schon in den goldenen 1920er Jahren.
Eine weitere Konstante in Berlin ist der Wandel. Kaum eine andere Stadt verändert sich derart schnell. Seit Jahren verändert sich das Stadtbild.
Für viele Berliner endet das Jahr traditionell am Brandenburger Tor. Dort steigt eine riesige Slivester-Party - ein Besuchermagnet auch für viele Touristen.
Im Saal 700 des imposanten neobarocken Gerichtsgebäudes ist es auffallend ruhig – obwohl Presse- und Zuschauerplätze voll besetzt sind. Während der Erklärungen der Angeklagten mustert Tina K., 28, die sechs mutmaßlichen Täter. Immer wieder macht sie sich Notizen. „Ich schreibe mir verschiedene Sachen auf, die mir auffallen“, verrät sie später. Namen, die fallen. Hinweise. Die junge Frau wirkt angespannt. In den Verhandlungspausen will sie am liebsten in Ruhe gelassen werden. Bei den Antworten, die sie dennoch gibt, spricht sie sehr leise und bedächtig. An ihrem schwarzen Jackett trägt sie einen Anstecker mit einem Foto ihres Bruders und der Aufschrift „I am Jonny“. So heißt der Verein, den sie gegründet hat.
Jonnys Schwester für Engagement mit Bambi ausgezeichnet
Am Abend dann stimmt sie einem Treffen zu, in einem kleinen Restaurant in Berlin-Steglitz. Seit dem Tod ihres Bruders kämpft Tina K. gegen Gewalt und für gegenseitige Akzeptanz. Dafür ist sie mit dem Bambi ausgezeichnet worden. Sie geht in Schulen und erzählt Kindern und Jugendlichen die Geschichte ihres Bruders. Sie erklärt ihnen, was Zivilcourage ist. Viele der Schüler haben das Wort vorher nicht einmal gekannt, erzählt sie. Dass schon Grundschüler Messer bei sich tragen, dass Jugendliche sich nicht anders zu äußern wissen als durch Gewalt, das sei ein Problem der Gesellschaft. „Wir sind alle zuständig“, sagt Tina K. Ob Politiker, Eltern, Lehrer oder Polizisten.
Am Vormittag haben die Angeklagten, Männer mit griechischen und türkischen Wurzeln, jene Nacht unterschiedlich geschildert, in der sie auf Jonny und seine zwei Freunde trafen. Aber alle berichten, es sei ein Zufall gewesen, dass sie gemeinsam zur U-Bahn liefen. Teilweise kannten sie sich nicht einmal, sagen sie. Manche behaupten auch, sich vorher noch nie geprügelt zu haben. Tina K. schüttelt den Kopf. „Das macht mir noch mehr Angst, dass Leute, die eigentlich nicht gewalttätig sind, so etwas machen.“
Tina K. geht regelmäßig zum Alex. An der Stelle, an der heute der Pavillon steht, wird bald ein Gedenkstein für Jonny errichtet. Selbst an der S-Bahn-Haltestelle in Berlin-Steglitz, wo Tina wohnt, ist der Alexanderplatz präsent. Von dort aus sieht man den mehr als zehn Kilometer entfernt in die Luft ragenden Fernsehturm. In dessen Schatten unter einem Pavillon Kerzen für den toten Jonny brennen. In dessen Schatten jeden Tag tausende Passanten flanieren, umsteigen, einkaufen, musizieren. Leben. In dessen Schatten an diesem ersten Prozesstag ein Friedensfest beginnt.