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Schicksale: Wenn Menschen einfach verschwinden

Schicksale

Wenn Menschen einfach verschwinden

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    Tanja Gräff aus Korlingen bei Trier (Rheinland-Pfalz) wird seit dem 7. Juni 2007 vermisst. Damals war die Studentin 21 Jahre alt. Freunde haben ein eigenes Plakat für die Suchaktion gestaltet.
    Tanja Gräff aus Korlingen bei Trier (Rheinland-Pfalz) wird seit dem 7. Juni 2007 vermisst. Damals war die Studentin 21 Jahre alt. Freunde haben ein eigenes Plakat für die Suchaktion gestaltet. Foto: www.suche-tanja.fh-trier.de

    Dieser 7. Juni 2007 ist ein warmer Donnerstag. Knapp 30 Grad misst die Wetterstation in Trier auf dem Petrisberg. Waltraud Gräff fährt ihre Tochter Tanja gegen 20.30 Uhr vom nahen Korlingen die zehn Kilometer weite Strecke in die Stadt, wo sich die 21-Jährige mit Freunden trifft. Die Gruppe macht sich später auf den Weg zum Sommerfest der Fachhochschule, auf dem gut 10.000 junge Leute bis in den Morgen feiern. Bands spielen. Musik dröhnt übers Areal. Getränkewagen stehen zwischen den Massen.

    Irgendwann verliert sich die Gruppe aus den Augen. Die letzten Lebenszeichen von Tanja gibt es kurz nach 4 Uhr am nächsten Tag, wird die Polizei rekonstruieren. Die 1,73 Meter große, schlanke Lehramtsstudentin mit schulterlangen, rötlichen Haaren telefoniert mit einem Bekannten. Auch wird sie auf dem Gelände, auf dem noch viele Leute sind, mit einem Mann gesehen. Das war es. Seither weiß keiner, wo sich Tanja aufhält. Ob sie noch lebt. Was mit ihr passiert ist.

    Fest steht nur, dass der Fall ziemlich einzigartig ist. Das sagen jedenfalls die Ermittler, die er auch nach mehr als sechs Jahren nicht loslässt. „Ich habe nie erlebt, dass ein Fall so präsent in der Öffentlichkeit ist“, erklärt Bernd Michels, ehemaliger Chef der Trierer Mord- und Leiter der Sonderkommission, die kurz nach dem Verschwinden der beliebten Studentin gebildet wurde. „Sehr außergewöhnlich“, findet ihn Michels Nachfolger Christian Soulier. Und der Leitende Oberstaatsanwalt Jürgen Brauer hält ihn für „in jeder Hinsicht einmalig“. Die Akten dazu füllen schon einen ganzen Raum.

    Studenten verteilen Plakate an Hochschulen im ganzen Land

    Einzigartig dürfte der Fall auch sein, weil sich von Anfang an Freunde, Familie und viele Studenten an der Suche beteiligen, die bereits am Tag des Verschwindens beginnt. Während die Polizei Wälder durchforstet, unter Brücken sucht und Spürhunde schnuppern lässt, wird im damals sehr beliebten Internetnetzwerk „StudiVZ“ eine Gruppe mit dem Suchaufruf gegründet. An Hochschulen in ganz Deutschland werden Plakate mit Tanjas Bild verteilt, auf dem sie einen fröhlich anlächelt. Und noch heute gibt es die „offizielle Webseite“ eines Freundes mit Informationen zum Fall.

    Dieser Freund ist Christian Steffen. Als die junge Frau damals verschwindet, ist es für ihn ein Schock. „Sie war eine meiner besten Freundinnen, wir kannten uns seit der Oberstufe“, erzählt er. „Sie war eine wichtige Person für mich.“ Was mit ihr geschehen ist, kann auch er sich nicht vorstellen. Er geht wie die Polizei davon aus, dass Tanja Opfer eines Verbrechens ist, denn sie galt immer als zuverlässig und hätte Familie und Freunde nie einfach ohne ein Wort zurückgelassen, sagt er.

    Angehörige bleiben ratlos zurück

    Doch nicht nur solche offensichtlichen Kriminalfälle geben Ermittlern Rätsel auf und lassen Angehörige ratlos zurück. Was, wenn jemand verschwinden will? Die Familie verlässt, um ein neues Leben zu beginnen? Oder sich aus dem Staub machen muss? Wie vielleicht Pokerspieler Kadir Karabulut? Zumindest schließt Dillingens Kripo-Chef Peter Timko nicht aus, dass er sich abgesetzt hat. Seit 4. März 2013 ist der 42-Jährige weg. Die einzige Spur ist sein Auto, das im April in Augsburg auftauchte. Doch auf seine Fährte ist die Polizei dadurch nicht gekommen. „Er hat sich mit so vielen Leuten angelegt, da gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten“, erläutert Timko. Außer der Flucht bleibt da nur, dass er „einbetoniert“ wurde, wie der Kriminalist es ausdrückt.

    Alles, was er und seine Kollegen versucht haben, um ihn zu finden, hat nichts gebracht. Handy überwacht: kein Telefonat geführt. Konto beobachtet: nicht benutzt. Nach Ausweis gefahndet: in der Wohnung gelassen. Da müsste der Spieler sein neues Leben vorab perfekt organisiert haben, um an eine neue Identität zu kommen und der immer lückenloseren elektronischen Überwachung zu entkommen. Wie auch bei anderen Fällen tun sich die Polizisten ohne Konkretes aber schwer bei ihren Ermittlungen, denn „wir leben von Spuren“, erklärt Timko.

    Die meisten Vermissten kehren schnell zurück

    Den Großteil der Verschwundenen machen aber nicht die aus, denen etwas angetan wurde oder die in ein neues Leben fliehen. Ein Beispiel. An einem einzigen Tag im Januar 2014 waren in Deutschland 8355 Personen vermisst gemeldet. In Bayern waren es im ganzen vergangenen Jahr 7821. Davon kehrten 6320 Vermisste spätestens nach drei Tagen nach Hause zurück.

    Vom Rest waren 477 aus Kinder- und Jugendheimen abgehauen, sagt das Landeskriminalamt. Mehr als 180 Menschen wurden tot aufgefunden. Ungeklärt sind seit 1972 noch 732 Fälle. Aber dazu zählen auch Kinder, die von Vater oder Mutter entführt wurden, sowie nicht gefundene Opfer von Flugzeugabstürzen, Naturkatastrophen wie dem Tsunami und auch Lawinenunglücken.

    Wann aber gilt jemand überhaupt als vermisst? Grob gesagt: Wer gegen seinen Willen seinen üblichen Lebenskreis verlassen hat. So definiert es zumindest die Polizei. Wenn Leib und Leben nicht bedroht sind, werden die Beamten keine Suchaktion beginnen, denn jeder Erwachsene darf selbst bestimmen, wo er sich wann aufhält. „Man muss das aber immer an der Situation festmachen“, betont Kripo-Chef Timko.

    „Oft hängt es von der eigenen Erfahrung ab, wie man etwas beurteilt. Es ist jedenfalls nicht so, dass immer erst nach einer gewissen Zeit nach jemandem gesucht wird, wie man es aus dem Fernsehen kennt.“ Anders sieht es bei Kindern und Jugendlichen aus. Sind sie nicht mehr da, wo sie sein sollten, geht die Polizei immer von einer Gefahr aus. Und beginnt direkt mit der Suche.

    Die meisten Menschen tauchen zwar wieder auf. In manchen Fällen ist die Chance, dass sie es noch tun, nach einiger Zeit aber verschwindend gering. Die Angehörigen können den Vermissten für tot erklären lassen, um einen Anspruch auf das Erbe oder eine Versicherung zu haben. In der Regel müssen mindestens zehn Jahre nach dem letzten Lebensjahr verstrichen sein, bevor sich die Staatsanwaltschaft und das zuständige Gericht damit befassen, heißt es dazu beim Landeskriminalamt.

    Details regelt das Verschollenheitsgesetz. Anschließend wird der Name etwa im Bundesanzeiger veröffentlicht. Dann kann sich die Person innerhalb von mindestens sechs Wochen bei den Behörden melden - oder jemand, der etwas über den Aufenthaltsort weiß. Rührt sich niemand, wird der Vermisste für tot erklärt und in offiziellen Dokumenten festgehalten. Sollte die Person doch noch wieder lebend auftauchen, wird alles rückgängig gemacht.

    Die Hoffnung nicht verloren

    Christian Steffen hat jedenfalls die Hoffnung nicht verloren, dass das Rätsel um Tanja Gräffs Verschwinden noch gelöst werden kann. Auch wenn die Gedanken an den 7. Juni 2007 und die aufreibenden Wochen danach verblasst sind. „Das Leben muss ja weitergehen“, sagt er. Dabei mache er sich heute häufiger Sorgen als früher, wenn jemand alleine unterwegs ist. Das Schicksal seiner Freundin lässt ihn eben nicht los.

    Wie auch Waltraud Gräff. Zu ihr hat Steffen noch häufig Kontakt, sagt er. „Sie ist stark“, erzählt der 27-jährige Medizintechniker, der jetzt in Bad Tölz lebt. „Sie macht weiter, sie hat ja keine Wahl.“ Einen Funken Hoffnung, dass sich alles aufklärt, habe sie noch. So wie die meisten Angehörigen von Vermissten, die erst ihre Ruhe finden, wenn es auch ein Grab zum Trauern gibt. Gräff hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Und das, obwohl sie bezweifele, dass alle Spuren sorgfältig genug überprüft wurden.

    Deshalb begleitet der Trierer Anwalt Detlef Böhm die Familie seit inzwischen drei Jahren, weil die Ermittler nicht allen Hinweisen nachgegangen seien und nicht alle Theorien durchdacht hätten. Als er in Waltraud Gräffs Auftrag dann darauf drängte, holten sie das nach. Wobei er die Beamten schon in Schutz nimmt. „Es ist eine schwierige Arbeit, man muss dabei Prioritäten setzen“, betont er. „Manchmal sind es aber gerade die kleinen Dinge, die etwas entscheiden.“

    Im Internet kursieren Verschwörungstheorien

    Zum Jahrestag wird er mit seiner Mandantin vielleicht wieder an die Öffentlichkeit gehen, vielleicht in der Fernsehsendung „Stern TV“. Noch wolle sich Tanjas Mutter nicht wieder mit Journalisten unterhalten. Zumal ein ehemaliger Bild-Reporter ein Buch veröffentlichen will, in dem es um Verschwörungstheorien geht, die er im Internet unter dem Titel „Die Lüge von Trier“ veröffentlicht hat.

    Darin beschuldigt er Tanjas Freunde, etwas mit dem Verschwinden zu tun zu haben, und wirft der Polizei Schlamperei vor. „Gegen Diffamierungen werden wir vorgehen“, kündigt Böhm an. Ansonsten ist er froh, wenn über die Studentin gesprochen wird. Denn „in anderen Kriminalfällen hat sich auch nach Jahren noch was getan“.

    Darauf hoffen der Trierer Mordermittler Soulier und sein Vorgänger Michels, der auf den Tag ein Jahr nach Tanja Gräffs Verschwinden einen Herzinfarkt erlitten hat, auch hier. Noch immer ist die Studentin Thema. Tausende Informationen sind bei der Kripo seit 2007 eingegangen, gut 800 waren so konkret, dass sie genau überprüft wurden. Doch das entscheidende Puzzleteil fehlt. Die Polizei sucht nicht die Nadel, sondern den Heuhaufen, wie es der 67-jährige Michels ausdrückt. Denn es fehlt ein Tatort.

    Nichtsdestotrotz gibt es sie noch, die neuen Hinweise. Zwei bis drei im Monat landen auf Christian Souliers Tisch. Für den entscheidenden Tipp gibt es insgesamt 30.000 Euro Belohnung. Es vergehe kaum eine Woche, in der nicht am Fall gearbeitet wird und in der nicht auch Parallelen zu anderen Verbrechen geprüft werden. Aber einen Treffer gibt es eben noch nicht. Ob es ihn überhaupt noch geben wird? Der 49-jährige Soulier gibt die Hoffnung nicht auf. Denn die Familie soll einmal Frieden mit Tanjas Verschwinden schließen können.

    Hinweise Wer etwas über das Verschwinden einer Person weiß, kann sich an jede Polizeidienststelle wenden. Von dort werden die Hinweise an die zuständigen Beamten weitergeleitet.

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