Alles ist bereit für den Kampf. Der Boden ist mit olivgrünen Matten gepolstert. Die ersten Teilnehmer stehen noch etwas unschlüssig herum. Was sind das wohl für Leute, die an einem „Rauf-Workshop“ teilnehmen? Spinnerte Alt-Hippies? Kampfsportler, die nicht ausgelastet sind? Es sind ziemlich normal wirkende Menschen, die nach und nach zur Türe reinkommen: mehr Frauen als Männer, die meisten im mittleren Alter. Und die sollen sich bald ineinander verhakt auf den Matten wälzen?
Gerhard Schrabal, der den heutigen Rauf- und Tanz-Workshop in einem Münchener Tai-Chi-Studio zusammen mit der Tanzpädagogin Anja Martina Bürk-Deharde leitet, ist ein Altmeister in Sachen Raufen. Früher trieb er Judo, doch der Leistungsgedanke störte ihn am Kampfsport. So entdeckte er in den 90er Jahren das Raufen für sich und fing an, sich dazu regelmäßig mit Bekannten an einem Münchener Badesee zu verabreden. Bald merkte er, dass es beim Balgen nicht nur um Sport und Spaß, sondern auch um Selbstentdeckung geht. Fasziniert vom Potenzial des Gaudi-Raufens gründete er 2004 zusammen mit Gleichgesinnten die Rauf-Akademie München. Inzwischen bietet er mit Bürk-Deharde ein- bis zweimal pro Jahr solche Workshops an.
In der Kinder- und Jugendarbeit hat sich Raufen längst etabliert
„Der wichtigste Aspekt ist, dass es Spaß macht“, erklärt Schrabal den Teilnehmern, die in einem großen Kreis auf dem Boden sitzen. „Heute geht es um Selbsterfahrung. Beim Raufen kann man sich nicht verstellen. Die Hülle fällt weg und der Kern wird sichtbar.“ Schnell fügt er hinzu: „Das ist jetzt keine Drohung, sondern ein Versprechen!“ Dass es beim „Play-Fighting“, wie es auch genannt wird, um Aggressionen und Ausüben von Gewalt geht, ist das erste große Missverständnis, dem der Rauf-Experte oft begegnet. Darum stellt Schrabal klar: „Beim Raufen kämpfen wir miteinander – nicht gegeneinander.“ Spaß soll es machen, ums Gewinnen oder Verlieren geht es nicht.
In der Kinder- und Jugendlichenarbeit hat sich das Raufen längst etabliert. Projekte wie „Raufen nach Regeln“ oder „Faires Raufen“ gelten bereits als pädagogisch wertvoll. Immer gilt: Bei den Raufstunden gelten klare Regeln und Rituale, die Kindern Sicherheit und ein Gespür für Grenzen vermitteln. In Augsburg bietet die AWO Familien- und Erziehungsberatungsstelle seit gut zehn Jahren Raufprojekte als Gewaltprävention für Kindergarten- und Grundschulkinder an. „Dabei wird die Selbst- und Fremdwahrnehmung geschult“, berichtet die Sozialpädagogin Susanne Hirt, die das Projekt entwickelt hat. „Die Kinder sollen Fairness lernen.“
Die Erfahrungen, die sie beim Raufen machen, sind hochkomplex: „Man muss sich verteidigen und eigene Grenzen zeigen, gleichzeitig muss man darauf achten, dem anderen nicht wehzutun“, erklärt Hirt. Raufen ist hochtherapeutisch, meint sie. So erlebte sie etwa, wie sich schüchterne Kinder dabei öffneten und andere, die häufig schlugen, rücksichtsvoller wurden.
Männer haben oft Hemmungen zu raufen
Geht es um Erwachsene, löst das Raufen nach wie vor Kopfschütteln aus. „Da gibt es riesige Vorurteile“, sagt der Kampfkunstlehrer Frank Taherkhani aus Göppingen, der ebenfalls Raufveranstaltungen für Erwachsene anbietet – darunter „Wasserraufen“, gemeinsames Herumtollen im Schwimmbecken. „Viele Leute meinen, dass wir aggressives Verhalten trainieren und die Hemmschwelle sinkt, wenn man so etwas öfter macht. Genau das Gegenteil ist der Fall!“ Je öfter man zum Spaß rauft, desto klarer kann man die Grenze zwischen Spiel und Realität ziehen, sagt er. Allerdings erlebt Taherkhani immer wieder, dass Männer Hemmungen haben zu raufen, weil sie fürchten auszurasten. „Sie halten sich für tickende Zeitbomben.“ Ihnen hält der Trainer vielsagend entgegen: „Wie viele Tötungsdelikte nahmen wohl ihren Ausgang in einer Kissenschlacht?“ Beim Raufen verstauche sich höchstens mal jemand den Finger.
Doch jetzt genug der Theorie. Zurück zum Workshop. Die Teilnehmer warten noch immer, was passiert. Einige waren noch nie beim Raufen. „Ich bin einfach neugierig“, sagt jemand. Ein anderer, der hier Sven heißen soll, hat schon positive Erfahrungen damit gemacht. „Ich möchte Menschen auch auf nonverbaler Ebene begegnen“, erzählt er. Überhaupt gibt Sven, hoch gewachsen, Lockenmähne, gerne Auskunft, möchte aber bitte anonym bleiben: „In meinem Dorf kommt so was nicht gut an“, sagt er mit gedämpfter Stimme.
Und wann geht es endlich los? Immer langsam: Erst mal sollen sich alle warm tanzen. Dann nähern sich die Teilnehmer Schritt für Schritt. Mal reiben zwei „wie ein Bär am Baum“ ihre Rücken aneinander, mal schieben sich Paare – Stirn an Stirn – durch den Raum: ein erstes, vorsichtiges Kräftemessen. Man nimmt Kontakt auf, spürt den eigenen Körper mit seiner Kraft, bemerkt den Widerstand des anderen. Ein erster Höhepunkt ist das „Kätzchenspiel“: Alle gehen in den Vierfüßlerstand und bilden einen Kreis. Wie junge Katzen suchen sie den Kontakt, schmiegen sich aneinander, drücken sich weg, fordern sich heraus. Bald fallen die Hemmungen, es wird miaut und gekichert, die Körper verkeilen sich: Aus drei Kreisen zu je sechs Teilnehmern bilden sich drei bunte Knäuel. Es wird gekeucht, gelacht und geprustet, eine Frau ruft: „Ist das anstrengend!“ Dann spricht Schrabal die erlösenden Worte: „Langsam werden die Kätzchen müde.“ Zur Belohnung dürfen sich die erschöpften Kämpfer in einen großen Haufen in die Mitte des Raums legen. Dort schmiegen sich alle aneinander, liegen quer über- und untereinander. Es wird ruhig im Raum, man hört lautes Atmen. Jemand stöhnt wohlig auf, einer kichert, irgendwo wird laut geseufzt, dann ist es ganz still.
Der sogenannte „Kuschelhaufen“ gehört fest zum Programm. Die beiden Elemente sind nur auf den ersten Blick Gegensätze, findet Gerhard Schrabal: Wer miteinander balgt, kommt sich nahe. Um Sex oder Erotik geht es ausdrücklich nicht. „Grapschen“ ist tabu – das gilt für Raufen und Kuscheln gleichermaßen. Spielerisches Balgen ist für Schrabal wie Kuscheln eine Form von Körperkontakt, nach dem sich viele Menschen sehnen. „In Deutschland gibt man sich entweder förmlich die Hand oder man geht miteinander ins Bett“, schreibt er in einem Buch, das er zum Thema geschrieben hat. „Dazwischen existieren nicht viele Spielarten des Körperkontakts.“ Für den Menschen, ein „felltragendes Herdentier“, sei Berührung aber „ein Zeichen sozialer Zugehörigkeit und vermittelt ihm ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.“ Eben das verbindet das scheinbar alberne „Kätzchenraufen“ mit dem „Kuschelhaufen“: die Kursteilnehmer sollen sich vom „Rudel“ angenommen fühlen.
Raufen kann Menschen helfen, die sonst nur wenig Körperkontakt haben
Alles Quatsch? Nein, findet der Psychologe Martin Grunwald, Leiter des Haptik-Forschungslabors der Universität Leipzig. Solche Rauf- und Kuschelangebote seien gefragt, da sie „interessante und wichtige Körpererfahrungen“ böten. Wenn sie Menschen helfen, die zu wenig Körperkontakte haben, seien sie absolut sinnvoll. Zwischenmenschliche Berührungen und „adäquate Körpererfahrungen“, meint Grunwald, seien lebensnotwendig: „Sie stimulieren den gesamten Organismus auf komplexe Weise. Die Stimulation des Tastsinnessystems durch Körperkontakt regt sowohl psychische als auch körperliche Prozesse an, die entscheidend zu unserem Wohlbefinden beitragen. Ein Mangel an Körperkontakt über längere Zeit kann sogar unserer Gesundheit schaden.“
Der Nachmittag ist schon fortgeschritten, als sich die Workshop-Teilnehmer einen Raufpartner suchen. Blicke schweifen durch den Raum, Erinnerungen an die Tanzschule werden wach: Wer ist sympathisch, wer passt von der Größe? Rasch haben sich Paare gefunden. Gemeinsam gehen sie in die Knie und fassen sich an die Schultern. Manche schauen sich zunächst ratlos an, andere verkeilen sich schnell keuchend ineinander. Bald geht es drunter und drüber, kämpfende Körper schieben sich hin und her, rollen übereinander, bleiben irgendwo liegen und lachen. Es wird gekeucht, geschrien und viel gelacht, während die Luft immer wärmer und stickiger wird. Dann steht Partnerwechsel an – bis alle erschöpft und kampfesmüde sind.
Peter, ein freundlicher Familienvater mit Vollbart, wirkt gelöst. Für ihn war das Kämpfen ein „Riesenspaß“. Vor allem hat er den Körperkontakt genossen, der dabei entstanden ist. Erfüllt berichtet er davon, wie seine Raufpartnerin ihren Kopf an seinen Hals lehnte: „Ich habe ihre Kraft und ihre Nähe gespürt. Das war sehr schön“, sagt er. „Ich bin süchtig nach Nähe, und zwar nach absichtsloser Nähe.“ Deshalb war er jahrelang auf Kuschelpartys unterwegs. „Mit jemand Wildfremden zu kuscheln war für mich einfacher und unkomplizierter, als wenn dieser ganze Beziehungswust dabei ist.“
Beim Raufen kann ein Kampf jederzeit mit einem "Stopp" beendet werden
Damit man sich jederzeit befreien kann, gibt es beim Raufen eine grundlegende Regel: Schon die Kindergartenkinder lernen, dass sie einen Kampf jederzeit beenden können, indem sie „Stopp“ sagen. Doch auch dazu müssen Kinder erkennen, wann ihnen der Kampf zu weit geht, und den Mut haben, das zu sagen. Dieser Lernprozess, der ebenfalls wichtig für das Selbstvertrauen ist, wird daher beim „Raufen nach Regeln“ gefördert.
Genau um solche Erkenntnisse geht es auch Schrabal. Wie viel haben die Teilnehmer davon bemerkt? Was sie zum Abschluss vorbringen, ist ganz unterschiedlich. Sichtlich beseelt ist zum Beispiel Sven, der Lockenkopf: Er erzählt mit leuchtenden Augen, wie er sich kämpfend ein Stück seiner Kindheit zurückerobert hat. Dagegen bekennt eine Frau ein paar Plätze weiter: „Ich bin eher ein Kuscheltyp, das Raufen ist nicht so meins.“ Wieder eine andere Teilnehmerin beklagt sich mit bebender Stimme darüber, dass „zu viel geredet“ statt gekämpft wurde – und mit einem Mal wird in der Runde so heftig diskutiert, wie vorher gerauft wurde. Hier und da bilden sich Grüppchen, in denen weiter debattiert und geredet wird. Jemand räumt die Reste des vegetarischen Buffets zusammen, andere verlassen eilig das Schlachtfeld. Das war’s. Der große Kampf ist vorbei.