Es gibt eine wunderbare, winzige Filmszene, wie gemalt für einen Rockmusiker, dem das Leben ein Outfit verpasst hat, wie es nur Udo Lindenberg zustehen kann. Das er trägt wie ein König. Nein, wie ein Panik-Präsident, würde Udo sagen. In der ARD-Dokumentation „Stärker als die Zeit“ sitzt er lässig auf einem Galerieplatz, während das Orchester der Abbey Road-Studios in London – klassisches Beatles-Terrain – das Streicherfundament für den Titelsong von Lindenbergs aktuellem Album legt. Das passenderweise auch „Stärker als die Zeit“ heißt und von sinnvollem Überleben handelt. Kurz nach der Veröffentlichung hat es die Spitze der Charts erobert.
Jetzt kommt’s: Udo Lindenberg, natürlich sonnenbebrillt, runzelt kurz die Stirn – und schon bewegt sich die Kopfbedeckung mit. Gehört der Hut zum Kopf oder der Kopf zum Hut? Spielt der wohl seit Jahrzehnten populärste Rockmusiker Deutschlands mit uns oder zieht er einfach sein Ding durch? Oder haben sich Accessoires zusammengetan, um zu verdeutlichen, dass der Udo L. aus Gronau in Westfalen mit seinem tänzelnden Schritt schon längst zur Ikone geworden ist? Da genügt auch schon – wie bei Neil Young oder Bob Dylan – ein Schattenriss, um ihn auszumachen. Das schafft kaum einer, weil er nicht Udo ist, nicht sein kann.
Keine Frage, er gehört zur „Bunten Republik Deutschland“, analog einem seiner Alben. Nun wird der bekannteste Nuschler im einheimischen Rockgeschäft heute 70 Jahre alt.
Udo Lindenberg wird 70: "Sonderzug nach Pankow" schreibt Geschichte
Aber nein, keine Panik auf der Titanic. Das Unikum geht Ende des Monats auf Tour. „Na ja, es wird eine große Show, mit Luftakrobaten und so“, sagt der Veteran, der eigentlich nie ein richtiger Sänger war. „Phrasierungen und lange Töne halten, das ist nicht Meins.“ Muss es auch nicht sein. Das neue Lied „Durch die schweren Zeiten“ ist etwa eine „Erinnerung“ an einen guten Freund, wie er uns am Telefon sagt. Aber von banalen Altersweisheiten, die ihm eigentlich zustehen würden, hält er Abstand.
Er hat keinen Grund dazu: Mit seinem ironischen Abgesang auf das Schiff Andrea Doria eroberte die selbsternannte Nachtigall sogar die Herzen der Teenager. Und diagnostizierte als sachlich-musikalischer Doktor: „Ein Herz kann man nicht reparieren.“ Wegen des Andrea-Doria-Songs wusste auch jeder Bayer ab 1973, dass „bei Onkel Pö“ eine Rentnerband seit 20 Jahren Dixieland spielt.
Das Lied machte die Hamburger Kneipe so erfolgreich, dass Lindenberg bis zu deren Schließung freigehalten wurde. Was der wohlhabende Musiker – den Millionär gibt er zu – nicht nötig gehabt hätte. Aber kann man eine solche Ehre ausschlagen?
Ein Lied aber machte Geschichte. Es war der „Sonderzug nach Pankow“. Lindenberg hatte sich jahrelang vergeblich um eine Auftrittsgenehmigung in der DDR bemüht. Udo ließ nicht locker: Und der Text hatte es 1983 in sich, weil der Sänger den damaligen Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker direkt anging.
„Ich hab ’n Fläschchen Cognac mit und das schmeckt sehr lecker. Das schlürf ich dann ganz locker mit dem Erich Honecker. Und ich sag: Ey, Honey, ich sing für wenig Money im Republikpalast, wenn ihr mich lasst.“
Udo Lindenberg: "Ich bin ein Unikat, halb Alien, halb Erdenmensch"
Letztlich mit Erfolg: Lindenberg durfte mit seinem Panik-Orchester im asbestverseuchten Palast der Republik auftreten. Im Juni 1987 schickte der Westrocker, der schon lange eine große Fan-Gemeinde im Osten hatte, Honecker einen offenen Brief und eine Lederjacke.
Als Gegengeschenk bekam der Sonderzug-Fan Udo eine definitiv nicht elektrifizierte Schalmei. Der Protestmusiker gewann die etwas gequälte Austauschgeschichte, weil er Honecker bei dessen Besuch im September 1987 ein Instrument mit der Aufschrift „Gitarren statt Knarren“ überreichte. Zwar hatte laut „Honey“ niemand die Absicht, eine Mauer zu errichten, aber der Sonderzug-Fan verfolgte eine ganz andere Absicht: Er sorgte mit dafür, dass die realisierte Mauer ins Bröckeln geriet.
Der Nuschler der Nation machte sich aber selbst zum Problemfall: In den 90er Jahren verlor er sich in eine Affäre mit Lady Whisky, die Fans machten sich Sorgen um ihren Liebling, mit ihnen wahrscheinlich auch seine Kunstfiguren Rudi Ratlos, Elli Pyrelli und Bodo Ballermann. Ein Entzug folgte dem anderen.
Inzwischen hat er, wie er sagt, das richtige Maß gefunden. Er joggt, bereitet seine Tournee vor, malt weiterhin seine berühmten „Likörelle“, Bilder eingefärbt mit alkoholischen Getränken. Wie überhaupt Eierlikör eine wesentliche Rolle spielt. Aber Udo wäre in seiner Kuriosität nicht das Gesamtkunstwerk, wenn er nicht auch dem gelben Gesöff aus Omas 60er-Jahre-Schrank seine Aufmerksamkeit schenken würde.
Wo beginnt die Ironie, wo fängt er geniale Sonderling an? Im Gespräch mit unserer Zeitung definiert sich Lindenberg folgendermaßen: „Ich bin ein Unikat, halb Alien, halb Erdenmensch.“ Aha. „Einmal abgerutscht von einem Meteoriten, dann Überflug über Gronau an der Donau.“ Das gibt es zwar nicht, aber dem Udo gefällt es des Reimes wegen.
Udo Lindenberg revolutionierte auch die Sprache
Was nicht jeder weiß: Der Panik-Zampano, der sich auch gegen Ausländerhass und die Kriege der Welt engagiert hat, ist belesen. „Schönen Gruß an Bert Brecht“, sagt er zu Beginn unseres Gesprächs. Der große, in Augsburg geborene Schriftsteller ist ihm wichtig. Schließlich hat er auch schon Texte eingesungen von Brecht und anderen deutschen Exilanten der 20er bis 40er Jahre, die vor den Nationalsozialisten geflohen waren. „Ich war auch im Augsburger Brechthaus“, erzählt der Rocker, dem das gute deutsche Lied am Herzen liegt und der „Deutsch für eine ganz tolle Sprache“ hält.
Gelitten hat er aber in den 50er Jahren unter den deutschen Gassenhauern, gerade er, der auf Rock’n’ Roll abfuhr. „Ich hasste die Schlager, mit denen die Deutschen ihr Nachkriegstrauma überkleistert haben, mit Lügen und all dem Schleim“, sagt er. Mit den schrägen Liedern der späten 20er Jahre kann er aber gut leben. Der Mann, dessen Privatleben sich seit 20 Jahren im Hamburger Hotel Atlantic abspielt. „Ich kann hier malen, meine Texte schreiben. Und dass es manchmal zugeht wie in einer WG, damit kann ich leben.“
Kreativer könne die Umgebung gar nicht sein, meint der Udo der Nation, der mit einem Haushalt nichts anfangen könnte. „Ich bin versorgt, kann mich auf das Wesentliche konzentrieren. Hätte der gute Bach seinen Müll selber runtertragen müssen, hätte er die eine oder andere Kantate nicht geschrieben“, sagt er.
Woher kommt nun der Udo-Sprech? Dessen Erfinder war schon eine coole Sau, bevor die Jugend der 80er und 90er Jahre die Coolness für sich entdeckte. Vielen mag es wie eine oft zelebrierte Show vorkommen. „Immer wieder los, unterwegs sein, nicht absitzen und festgetackert da irgendein Katalogleben imitieren ... nee, man muss immer wieder raus und von vorn anfangen, als experimentelle Wildente.“ Das hat er vor einiger Zeit in Die Welt geschrieben, deren 70-Jahre-Jubiläumsausgabe von vorne bis hinten mit Likörellen gefüllt war. 2010 hatte er den Jacob-Grimm-Preis für deutsche Sprache bekommen. So einer nennt die Frau an seiner Seite auch nicht Lebensgefährtin, sondern „Komplizin“, die „nah an seinem Herzen“ wohne. Es ist die Fotografin Tine Acke.
Der "Exzessor" Udo Lindenberg wird 70
Das Nationalmaskottchen definiert im Gespräch mit uns seine sprachlichen Extravaganzen durch die Jugenderfahrungen. „Ich bin ein Straßenstreuner, den Sound der Straße und die Worte habe ich mit 15 inhaliert, als ich nachts angebrettert durch die endlosen Labyrinthe der Großstädte gezogen bin.“
Dass er mal 70 Jahre alt würde, überrascht den Musiker doch sehr. „Als Rock’n’Roll-Exzessor hätte ich das nie für möglich gehalten.“
Hinterm Horizont geht’s weiter. Für Udo und uns alle. Das haben wir von ihm gelernt.