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ADHS in der Schule: Sandwesten für zappelige Schüler? Das halten Experten davon

ADHS in der Schule

Sandwesten für zappelige Schüler? Das halten Experten davon

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    Diese Weste ist nicht mit Daunen gefüllt: Sandwesten sollen Kinder mit Aufmersamkeitsdefiziten helfen ruhiger zu arbeiten.
    Diese Weste ist nicht mit Daunen gefüllt: Sandwesten sollen Kinder mit Aufmersamkeitsdefiziten helfen ruhiger zu arbeiten. Foto: Beluga Healthcare

    Sie sind bis zu sechs Kilogramm schwer und sollen besonders unruhigen Kinder helfen, sich selbst besser im Griff zu haben: Sandwesten. In 13 Hamburger Grund- und Förderschulen werden sie seit Jahren eingesetzt. Nach Angaben eines Herstellers aus Windhagen in Rheinland-Pfalz wurden die Westen sogar an bundesweit 200 Schulen geliefert.

    Therapeutischer Nutzen bisher nicht bestätigt

    Jetzt kritisiert der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in Deutschland die Hilfsmittel, die vor allem bei Kindern mit dem krankhaften Aufmerksamkeitsdefizit ADHS zum Einsatz kommen. Der therapeutische Nutzen sei bisher nicht belegt, sagt Josef Kahl, Sprecher des Berufsverbands. Außerdem warnt er davor, unruhige Kinder dadurch „als Störenfriede oder gar als ADHS-Patienten zu stigmatisieren“. Er kritisiert weiter, dass in vielen Schulen die Klassen zu groß seien. „Unruhige Kinder als krank auszusortieren und ihnen die Sandweste überzuziehen, löst diese Probleme nicht.“ Allerdings wird der Nutzen der ungewöhnlichen Hilfsmittel unter Ärzten kontrovers diskutiert und hat auch Befürworter. In der Ergotherapie wird das Produkt außerhalb von Schulen häufig erfolgreich eingesetzt.

    Kurz erklärt: ADS und ADHS

    ADS oder ADHS? ADS steht für die Aufmerksamkeits-Defizit-Störung. Bei ADHS kommen Impulsivität und Hyperaktivität, also ein Bewegungsdrang dazu, erklärt Frank Beer, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie Klinik Hochried in Murnau.

    Was sind die Symptome? Das Krankheitsbild ist sehr heterogen. Die Kernsymptome sind das Aufmerksamkeitsdefizit, den Kindern fällt es schwer, sich zu steuern und Impulse zu kontrollieren, erklärt Beer.

    Was ist die Ursache von AD(H)S? Bislang steht fest, dass die Krankheit wohl über verschiedene Gene vererbt wird, erklärt Beer. Umwelteinflüsse können die Ausprägung beeinflussen.

    Wer bekommt AD(H)S? Die Krankheit entsteht immer im Kindesalter. Allerdings wird sie nicht immer gleich festgestellt, sagt Beer.

    Wie viele Kinder haben AD(H)S? Man geht davon aus, dass etwa fünf Prozent aller Kinder im Alter zwischen drei und 17 Jahren AD(H)S haben. Laut Zahlen der AOK bekamen im Jahr 2014 4,4 Prozent ihrer Versicherten die Diagnose. Dreiviertel aller Betroffenen sind Buben.

    Warum sind Buben häufiger betroffen? Die Ärztin Susanne Holzt-Joas sagt, dass bei Buben häufiger die Hyperaktivität dazukommt. Sie fallen deshalb eher auf. Mädchen hätten hingegen öfter ADS und seien verträumt und zurückgezogen.

    Sind die Zahlen schon immer gleich? Die Zahl der Diagnosen hat zugenommen. Die Statistik der AOK zeigt, dass im Jahr 2006 lediglich 2,5 Prozent der dort versicherten Kinder und Jugendlichen AD(H)S hatten.

    Wie sieht es mit der Verschreibung von Medikamenten aus? Auch hier ist die Zahl gestiegen. Im Jahr 2006 bekamen 12 von 100 AOK-Versicherten Methylphenidat. Im Jahr 2012 lag der Wert mit 14 von 100 Versicherten am höchsten. Inzwischen ist die Zahl auf das Niveau von 2012 zurückgegangen. (hhc)

    Schüler mögen die Sandwesten

    Wer im Unterricht eine therapeutische Weste bekommt, entscheidet der Lehrer. Bei Schülern seien die Westen beliebt, heißt es im Hamburger Abendblatt. „Die Weste macht mich ruhiger und meine Schrift ist dann nicht mehr so krakelig“, zitiert die Zeitung etwa einen Jungen, der sonst Probleme hat, seine Arme und Beine unter Kontrolle zu halten.

    Simone Fleischmann, Präsidentin beim Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV), kennt keine Schule im Freistaat, die die Überwürfe nutzt. Sie warnt aber davor, solche Konzepte grundsätzlich zu verurteilen: „So etwas geschieht sowieso nur in ganz enger Absprache mit Kinderpsychiatern.“ Die Therapie bei verhaltensauffälligen Kindern sei sehr individuell. Von pauschalen Therapiekonzepten für Kinder etwa mit ADHS hält Fleischmann nichts. Rund drei bis fünf Prozent eines Jahrgangs sind laut dem Berufsverband für Kinder- und Jugendärzte ADHS-Patienten.

    Lehrerverband fordert Verbot

    Besonders deutlich äußerte sich die Vorsitzende des Philologenverbandes Rheinland-Pfalz, Cornelia Schwartz, jüngst zum Thema Sandwesten:„Es ist der verzweifelte Versuch von Regelschulen, noch irgendwie Ordnung ins Chaos zu bringen.“ Ihr Verband sei bestürzt und fordere ein sofortiges Verbot.

    Der Windhagener Hersteller dieser Westen, Beluga Healthcare, äußert sich auf seiner Internetseite ebenfalls: „Wir möchten vermeiden, dass unsere Produkte als Zaubermittel bei jeder Form von Konzentrationsschwäche eingesetzt werden.“ Nicht jedes Kind, das „natürlich unruhig sei“, benötige eine Sandweste. Eine Diagnose müsse vorhanden sein. Außerdem bittet das Unternehmen darum, die Weste dem Kind nicht gegen dessen Willen anzulegen. (mit epd)

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