Wie macht man Sex? Ja, das ist eine der Fragen, die sich jeder irgendwann stellt. Aber in welchem Alter? Im konkreten Fall stammt sie von einem Grundschüler der 3. oder 4. Klasse und sie findet sich in dem Kindersachbuch „Klär mich auf“. Die Autorin Alexandra von der Gathen ist Sonder- und Sexualpädogin und erklärt Grundschülern, wie das so ist, mit Mann und Frau. Zu Beginn stellt sie einen Briefkasten auf, in den die Kinder Zettel mit ihren Fragen werfen können, und sie verspricht, sie alle zu beantworten. Aber wie man Sex macht, muss das ein Grundschüler schon wissen?
Wie sollen unsere Kinder aufgeklärt werden und in welchem Alter? Darüber ist in den vergangenen Monaten eine Diskussion aufgeflammt. Sie hat sich an zweierlei entzündet. In Bundesländern wie Niedersachsen, dem Saarland und Baden-Württemberg sollen die Bildungspläne auch der Akzeptanz sexueller Vielfalt Rechnung tragen. Das heißt, Lehrpläne und Schulbüchern sollen die veränderte Lebenswirklichkeit widerspiegeln und neben dem traditionellen Familienbild von Vater, Mutter, Kind auch homosexuelle Partnerschaften berücksichtigen. Ebenso Intersexualität und Transsexualität.
Wie und wann sollten Kinder aufgeklärt werden?
In Bayern ist das nicht so. Im vergangenen Jahr wurde im Bildungsausschuss des Landtages ein solcher Antrag der Grünen abgelehnt. Trotzdem gehen auch hier mittlerweile „Besorgte Eltern“, so der Name einer Initiative, die ihren Sitz in Köln hat, auf die Straße. Weil sie befürchten, dass schon Kindergartenkinder und Grundschüler durch Aufklärung „frühsexualisiert“ werden. Außerdem stören sie sich an einer „Gender“-Ideologie, die „das Wertefundament unserer Gesellschaft zerstört“, weil sie die Geschlechterrollen von Mann und Frau aufzulösen versuche.
Der zweite Aufreger sind drastische Methoden der Sexualpädagogik, die auch schon Zwölfjährigen erklären wollen, dass eine GangBang-Party eine Art Gruppen-Sex ist. Und die dazu anregen, sich „galaktische Sexpraktiken“ zu überlegen. Im Internet finden sich in zahlreichen Foren die Beiträge von Müttern und Vätern, die darüber berichten, dass ihre Kinder in der Schule erfahren, wie lesbische Frauen sich befriedigen und was ein Blowjob ist. Es besteht also offenbar Gesprächsbedarf über ein Thema, das noch nie frei war von Vorbehalten und hochkochenden Emotionen.
Werden Kinder durch den Unterricht sexualisiert?
Fachkundig unterhalten kann man sich mit Elke Gropper-Schumm, Diplom-Sozialpädagogin, und Martin Grützmacher, Diplompädagoge. Die beiden haben bei ihrer Aufklärungsarbeit für „Pro Familia“ in Augsburg mit noch kindlichen Zehnjährigen ebenso zu tun wie mit pubertierenden Teenagern. Sexualität ist für sie „eine Lebensenergie, die sich von Geburt an bis zum Tod in unterschiedlicher Ausprägung zeigt, und mit der man altersspezifisch umgehen muss“. Konkret heißt das: „Kindliche Sexualität ist etwas vollkommen anderes als erwachsene Sexualität. Sie ist nie auf Befriedigung ausgelegt“, erklärt Gropper-Schumm. Im Vordergrund bei Kindern stehe die Neugier.
„Die wollen wissen, wie das Baby in den Bauch kommt und wieder hinaus, und wenn man ihnen das erklärt, dann ist es auch wieder gut.“ Deshalb hält sie den Vorwurf, dass Kinder durch Aufklärungsunterricht sexualisiert werden, für Unsinn. „Kinder wollen etwas darüber wissen, was sie um sich herum erleben“, sagt Elke Gropper-Schumm. Und sie macht deutlich, dass Acht- und Zehnjährige heute eben auch mit Beate-Uhse-Werbung am Straßenrand und Mißbrauchsfällen in den Nachrichten konfrontiert würden. „Man nimmt ihnen viel Angst, wenn man ihnen dann auch Informationen darüber gibt.“
Der frühe Sexualkundeunterricht in den Grundschulen sei eine Prävention gegen Missbrauch und sexuelle Gewalt, weil die Kinder dadurch besser über ihren Körper und ihre Gefühle Bescheid wüssten. Sexualpädagogik in der 4. Klasse solle auch auf die körperlichen Veränderungen vorbereiten, die den Zehn- und Elfjährigen bevorstehen. „Da kann es durchaus sein, dass wir nach den Stopseln gefragt werden, die Frauen für ihre Regelblutung benötigen“, gibt Elke Gropper-Schumm den Wissensdurst Zehnjähriger wieder. Wichtig sei es auf jeden Fall, so erklären die beiden Sexualpädagogen von Pro Familia, dass eine offene Atmosphäre herrsche. Kurse für Kindergartenkinder, darauf weist Martin Grützmacher hin, gäbe es im Übrigen gar nicht. Wohl aber für die Eltern und Erzieher, und denen wollten sie Unterstützung geben, wie man sich bei Fragen der Kinder verhalten könne.
Fast die Hälfte der 14- und 15-Jährigen hat bereits pornografische Bilder gesehen
Eltern sind dankbar, wenn man ihnen in der sexuellen Aufklärung ihrer Kinder zur Seite steht. Diese Erfahrung haben die beiden Pro Familia-Berater immer wieder bei den Elternabenden, mit denen sie ihre Kurse einleiten, festgestellt. Denn es herrscht große Verunsicherung und Sorge, wie man der leichten Verfügbarkeit von virtuellem Sex und Pornographie im Internet begegnen kann.
Studien zeigen, dass 46 Prozent der 14- bis 15-Jährigen schon pornografische Bilder und Videos gesehen haben. Wobei hier die Jungen deutlich in der Mehrzahl sind. 90 Prozent haben Erfahrungen mit Pornografie. In der Praxis zeigt sich allerdings, dass Hardcore-Sex für Jugendliche doch nicht das große Thema ist. „ Die wollen wissen, wie man sich dem anderen Geschlecht nähert, wie man küsst, wie man dem anderen sagen kann, dass man mit ihm schlafen will. Sie sind eher erleichtert, wenn wir ihnen erzählen, dass man all das, was sie da in Filmen sehen, nicht machen muss“, sagt Elke Gropper-Schumm mit einem Schmunzeln.
Tatsächlich sind Jugendliche heute gar nicht früher sexuell aktiv
Partnerschaft, Treue, Emotionen und Verhütung – das sind trotz manch drastischer Sprache, mit der sich die Jugendlichen auf dem Pausenhof verständigen, die Themen, die bei Teenagern im Vordergrund stehen. Auch dafür gibt es natürlich Zahlen, nämlich von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die 2010 eine Untersuchung zur Jugendsexualität durchgeführt hat. „In der Regel“, heißt es darin, „erleben deutsche Jugendliche ihr erstes Mal in einer festen Beziehung.“ Außerdem wurde festgestellt, dass Jungen und Mädchen mitnichten früher sexuell aktiv sind, sondern dass bis zu einem Alter von 17 Jahren mehr als ein Drittel der jungen Frauen und Männer noch keinen Geschlechtsverkehr hatten.
Die Studie zeigt auch, dass etwa drei Viertel der Jugendlichen ihre Kenntnisse über Sexualität, Fortpflanzung und Verhütung gar nicht aus dem Internet haben, sondern aus dem Schulunterricht. Damit genug der Zahlen, zurück zur Praxis, nämlich zu Birgit Forster, Biologielehrerin am Augsburger Peutinger-Gymnasium. „Mir ist vor allem wichtig, dass der Unterricht vor einem wertschätzenden Hintergrund abläuft“, erzählt sie und verständigt sich deshalb mit ihren Schülern erst einmal auf eine angemessene Wortwahl. Ihr geht es in erster Linie um die Vermittlung biologischer Fakten, „denn der Zugang zu Halbwissen und Halbwahrheiten ist größer geworden“, weiß sie. Ansonsten sei Sexualität in ihrem Fach ein Thema wie jedes andere auch. Und sie stellt bei ihren Schülern fest, dass das Interesse groß und die Aufgeregtheit eher gering ist.
Wie in den meisten Bundesländern ist Sexualkunde in Bayern fächerübergreifend zu unterrichten, das heißt, Aspekte wie Verantwortung, theologische Auffassungen, rechtliche Regelungen oder die literarische Verarbeitung des Themenkomplexes diskutieren die Jungen und Mädchen ebenso im Religions- und Ethikunterricht wie in Deutsch und Sozialkunde. Auch Gynäkologen können integriert werden. Am Peutinger- Gymnasium, erzählt Birgit Forster, erfahren die Schülerinnen und Schüler der 6. Klassen in Workshops der Diözese Augsburg, dass ihr Körper wertvoll ist, so wie er ist. In anderen Bundesländern kommt es auch vor, dass Homosexuellen-Netzwerke oder die gegen jede Norm aufbegehrende Queer-Gruppierungen zum Aufklärungsunterricht an Schulen zugezogen werden – was eben auch zu Protesten von Elternverbänden führt.
Schwul, queer und Gang-Bang – die Vielfalt ist umstritten
Zu Beschwerden, dass ihre Söhne und Töchter in der Schule „pornografisiert“ werden, ist es laut Henning Gießen, Sprecher am Kultusministerium, in Bayern bisher nicht gekommen. Diese Befürchtung äußerte im letzten Jahr Bernhard Saur, Vorsitzender des baden-württembergischen Philologen-Landesverbandes. Er bezog sich auf das Buch „Sexualpädagogik der Vielfalt“, das Lehrern in Niedersachsen und Hamburg für den Unterricht empfohlen wird. Neben Spielen, die das Nein-Sagen einüben oder die Unterschiedlichkeit von Menschen deutlich machen, werden 13-Jährige ermuntert, über ihr „erstes Mal“ zu sprechen, über Selbstbefriedigung und Petting. Oder sich in einem Quiz eben mit der Frage auseinanderzusetzen, was Gang-Bang ist.
Auch bei „Pro Familia“ in Augsburg steht das Werk im Schrank. Allerdings hält Martin Grützmacher die Aufregung für übertrieben. Das von Professoren herausgegebene Buch sei keinesfalls ein Lehrbuch, sondern stelle Überlegungen zu möglichen Methoden vor. Die Autoren empfehlen ohnehin, Lehrer sollten individuell einschätzen, ob ihre Schüler dafür bereit sind.
Wie weit sollten Kinder und Jugendliche aufgeklärt werden?
Wo anfangen, wo aufhören, wenn es um die Aufklärung von Kinder und Jugendlichen geht? Darüber herrscht wohl noch lange keine Einigkeit – und darüber wird es angesichts wandelnder Werte und Normen auch weiterhin Gesprächsbedarf geben. „Wie sag’ ich’s meinem Kinde?“, bleibt also eine Frage mit Zündstoff. Ebenso wahrscheinlich wie die nach dem „Sex machen“.
Die Grundschüler haben von Alexandra von der Gathen übrigens folgende Antwort bekommen: „Sex machen kann vieles bedeuten: sich küssen, streicheln, kuscheln, miteinander schlafen und vieles mehr. Man kann auch sagen, dass sich zwei Menschen ganz nahe sein und sich gegenseitig spüren wollen. Die Körper fühlen sich dabei ganz kribbelig an. Wenn eine Frau und ein Mann miteinander Sex haben, wird irgendwann der Penis richtig fest und ein bisschen größer und die Scheide der Frau wird feucht. Wenn beide es wollen, lässt der Mann seinen Penis in die Scheide der Frau gleiten. Jede Bewegung vor und zurück lässt sie das kribbelige Gefühl immer mehr spüren – bis es auf einmal zum Kribbel-Höhepunkt kommt, zum Orgasmus. Ein bisschen fühlt sich das an wie beim Schaukeln: immer höher und höher. Bis irgendwann am höchsten Punkt im Bauch ein Glückshüpfer zu spüren ist. Wenn es genug ist, fühlen sich beide wohlig und entspannt.“