Er lebt. Er sitzt, redet, lacht, atmet. Selbstverständlich ist das nicht. Er hatte Krebs. Er hat Krebs. So genau kann das ja niemand sagen. 49 Jahre ist er alt, ein sympathischer Mann, Sachverständiger für Arbeitssicherheit, verheiratet, ein Kind, wohnhaft in der Nähe von Augsburg. Seine Frau hat darum gebeten, dass sein Name nicht in der Zeitung steht. Nennen wir ihn Thomas.
Seit Dezember geht Thomas wieder aus dem Haus. Auch das ist nicht selbstverständlich. Denn Thomas hat keine Nase mehr. Drei Ärzte haben sie in einer elfstündigen Operation entfernt.
„Ich habe Glück gehabt“, sagt er, „trotz allem.“ Im Dezember 2011 hat Thomas eine neue Nase bekommen. Zum Aufstecken. Werner Roschmann hat sie für ihn aus Silikon geformt.
Thomas ist nur einer von vielen Patienten, denen Roschmann ein neues Gesicht gegeben hat. Seit mehr als zwanzig Jahren stellt der 59-Jährige Epithesen her: künstliche Körperteile, die im Prinzip funktionieren wie Prothesen – aber hauptsächlich eine ästhetische Funktion erfüllen.
Der Zahntechniker-Meister hat sich seinen Beruf selbst beigebracht. Anfang der 1980er Jahre besuchte er eine Klinik in Los Angeles und sah dort zum ersten Mal, dass aus Kunststoff täuschend echt aussehende Gesichtsteile entstehen können. Zurück in Deutschland begann er, selbst auf diesem Gebiet zu experimentieren und zu forschen – mit Silikon.
Roschmanns Kunden sind Krebspatienten. „Wenn ein Gesicht bei einem Unfall entstellt wird, sind schlimmstenfalls nur noch Knochensplitter da, mit denen Chirurgen aber arbeiten können, Gewebe, das wieder verwachsen kann“, sagt er. Lautet die Diagnose Krebs, muss das betroffene Stück Körper aber oft komplett entfernt werden.
Es ist Hautkrebs
Wie bei Thomas. Nach einer Vorsorgeuntersuchung im Juni 2011 war klar: Der dunkle Fleck auf seiner Nase ist kein Muttermal. Es ist Hautkrebs. Ein Karzinom, groß wie ein Taubenei, saß da schon im Inneren der Nase. Auch auf die Lymphknoten im Hals hatten sich die bösartigen Zellen ausgebreitet. „Ich hatte die Wahl: Entweder ich fahre gegen einen Baum oder ich lasse mich operieren“, sagt Thomas trocken. Eine Ärztin gab ihm die Telefonnummer von Werner Roschmann. Und Thomas und seine Frau setzten sich ins Auto und fuhren nach Buch bei Illertissen, ins „Fachlabor für künstliche Gesichtsteile“.
Das Labor ist im Obergeschoss von Werner Roschmanns Haus. Der Epithetiker hat keine Mitarbeiter, und er will auch keine haben. Er will seine Patienten persönlich betreuen. „In meinem Beruf geht es nicht nur um Körperteile. Es geht vor allem um Menschen.“ Die Menschen, die in Roschmanns Labor kommen, haben Dinge erlebt, die auch für sie selbst unvorstellbar waren. Sie haben eine Diagnose bekommen, die innerhalb von Sekunden ihr Leben komplett verändert hat. Sie haben Wochen, oft Monate in Arztpraxen und Kliniken verbracht, sind von einem Experten zum nächsten geschickt worden. Dann sind sie, irgendwann, in einer Klinik auf einem Operationstisch gelandet. Und haben dort, um vielleicht weiterleben zu können, ein Auge verloren, ein Ohr, ein Stück Kiefer oder, wie Thomas, die Nase.
Thomas weiß, wohin der Blick seines Gegenübers fällt, während er seine Geschichte erzählt. Und er kann darüber lächeln. Denn die Epithese wirkt so natürlich, dass sie für einen Laien als solche nicht zu erkennen ist. „Wollen Sie es sehen?“, fragt er dann. Und zieht sich, mit einer kurzen Handbewegung, die Nase aus dem Gesicht.
Mit Augenmaß und viel Feingefühl
Werner Roschmann hat sie mit Hilfe von alten Fotos, Augenmaß und viel Feingefühl gemacht. Er richtet sich bei seiner Arbeit nach den Wünschen seiner Patienten – und nach dem Goldenen Schnitt. Roschmann erklärt: „Der Winkel eines Nasenrückens entspricht dem Winkel des Ohrrandes, auf der Linie zwischen den inneren Augenlidspalten und den Eckzähnen enden die Nasenflügel.“ Mit den Händen malt er unsichtbare Linien um den Kopf seines Patienten. Daumen und Zeigefinger dienen als Maßeinheit.
Aus hautfarbenen Wachsplatten formt er dann ein Modell, gießt aus Gips eine Form und füllt diese wiederum mit Silikon. Etwa 35 Stunden Arbeitszeit braucht er für ein Ohr, 40 für eine Nase, 50 für eine Augenpartie. Roschmann zeichnet nicht vor und benutzt keinen Computer. Epithetik ist Handarbeit. In wenigen Sekunden dreht sich eine kleine hautfarbene Wachsplatte in seinen Fingern zu einer winzigen Rolle. Der Daumen zieht, drückt, streicht. „Ein Nasenrücken“, sagt er dann.
Epithesen aus Silikongel
Das Silikongel, aus dem die Epithesen später entstehen, färbt Roschmann selbst ein – ein bisschen rötlich am Nasenrücken, etwas heller an den Nasenflügeln, ein brauner Hauch im Inneren der Nasenlöcher. Nur wenn Form und Mischung perfekt sind, sieht das Kunstwerk echt aus. Winzige Filzpartikel geben eine leichte Maserung der Haut. Aus Pferdehaar entstehen Wimpern, Augenbrauen oder Barthaare.
Etwa fünf Mal bestellt Roschmann seine Patienten zur „Anprobe“ ein – oder fährt, wenn sie selbst nicht mehr mobil sind, zu ihnen nach Hause oder ins Krankenhaus. Er arbeitet viel mit der Uniklinik Ulm und dem Bundeswehrkrankenhaus Ulm zusammen, von der Universität im britischen Yorkshire hat er die Ehrendoktorwürde verliehen bekommen, von der staatlichen Universität im rumänischen Pitesti eine Honorarprofessur. Und er ist auf der ganzen Welt unterwegs – in Österreich, der Schweiz, Tschechien, Italien, Frankreich oder Portugal, aber auch in Russland, der Ukraine oder Südamerika. Dort gibt er Seminare und behandelt Patienten – wenn sie es sich nicht leisten können, gratis.
„Man kann nicht nur die Krankheit sehen, man muss auch die Hintergründe kennen, das Leid“, sagt er. Roschmann weiß, wovon er spricht. Der 59-Jährige hat drei Herzinfarkte hinter sich. Als vor ein paar Jahren ein Knoten in seiner Lunge festgestellt wurde, diagnostizierten Ärzte auch bei ihm Krebs. Nach ein paar Monaten stellte sich heraus, dass der Tumor gutartig war. Roschmann hatte Glück. Doch die Erinnerung an das Gefühl der Machtlosigkeit ist geblieben. „Krebs ist so brutal“, sagt er, „und wenn die Menschen dann auch noch entstellt sind, muss man doch helfen, wenn man kann.“
"Er verliert sein Gesicht"
„Wer seine Nase verliert, verliert nicht einfach ein Körperteil“, sagt Thomas. „Er verliert sein Gesicht.“ Wie ein „Monster“ habe er sich gefühlt, als er sich nach der Operation im vergangenen Sommer in Ulm zum ersten Mal im Spiegel sah. Damit später die Epithese befestigt werden konnte, haben ihm die Ärzte eine kleine Metallstange mit Magneten implantiert. Das Gegenstück dazu hat Roschmann in das Silikon eingearbeitet. Vier Monate dauerte es, bis die Wunde nach der Operation gut genug verheilt war, um die künstliche Nase anzupassen. Seitdem hat für Thomas ein neues Stück Leben begonnen. „Ich sehe wieder aus wie ein Mensch“, sagt er.
Seine neue Nase ist so kunstvoll geformt und eingefärbt, dass sie selbst mit Mühe kaum als künstlich zu erkennen ist. Nur ein kleiner Schatten an der rechten Wange lässt erahnen, dass da etwas anders ist als früher, eine hauchzarte Kante an der Oberlippe, von Barthaaren bedeckt, könnte auch ein Kratzer sein.
Ob der 49-Jährige den Krebs überstanden hat, kann niemand sagen. Nach der Operation haben die Ärzte keine bösartigen Zellen mehr in seinem Körper gefunden. Jetzt muss er jeden Monat zur Nachkontrolle. Ansonsten aber kann er normal leben. Er kann das Haus verlassen und über den Rathausplatz in Augsburg laufen, ohne aufzufallen. Er kann ein Gespräch führen, sitzen, reden, lachen, atmen, ohne irritierte Blicke ertragen zu müssen. Er kann mit seiner Epithese joggen, schwimmen und sogar in die Sauna gehen. Er kann leben. Und er kann nicht nur, er tut es.