Es war noch nicht lange her, da hätten viele Fans der kanadischen Kritikerlieblinge ihrer Band die viel zu großen Plastikköpfe vom Kopf gerissen, um dem Septett ins Gesicht zu schreien: "Aufwachen! Ihr seid Arcade Fire, nicht The Reflektors und alles was ihr bis heute gemacht habt, war ganz wunderbar." Dann vergingen Wochen und Monate nach der ersten, in Fankreisen eher kritisch beurteilten Singleauskopplung "Reflektor" im September 2013. Dazu ein Video, in dem die Band viel zu große Plastikköpfe trägt - Abbilder ihrer selbst. Ein Geheimkonzert unter dem Bandpseudonym "The Reflektors" folgt im November in Berlin.
Arcade Fire kommen als Arcade Fire zurück
Doch nun kommen sie zurück: Arcade Fire als Arcade Fire. Am Mittwoch auf der Berliner Wuhlheide vor 15000 Menschen tragen die wahlweise Indiepopper oder Artrocker nicht mehr ihre eigenen Kopfimitate auf den Schultern. Vieles hat sich verändert: Plastikmasken zeigen die Beatles. Zu "Komm gib mir deine Hand" tanzen auf einem gartenteichgroßen Publikumspodium Unbekannte. Selbstironisch schickt die Band um Win Butler die stilisierten Popidole mit dem Gruß "Eure Köpfe sind viel zu groß. Das ist erschreckend" und der ersten Zugabe "Normal Person" in die Versenkung.
Wuhlheide: Arcade-Fire-Fans in Euphorie
Genug reflektiert. Arcade Fire scheint wieder zu wissen, wer sie sind und was sie ausmacht. Die anfangs zurückhaltenden Besucher reagieren nicht nur versöhnt, sondern euphorisch. Was bleibt ist die Geschichte einer Band, die kurz vor dem Überflug nach dem Grammy-Album "The Suburbs" einen Gang zurückschaltet, um jetzt rechts zu überholen. Die eine Außenperspektive konstruiert und nicht zuletzt ihr eigenes Bühnenleben als die Pophelden der vergangenen zwölf Jahre persifliert. Das veranschaulichen die Videos der Songs vom jüngsten Album, die auch an diesem Abend mit etwas verwaschenem Sound aus den Boxen an der Wuhlheide schnarren - "Joan of Arc", "We exist", "Afterlife" und natürlich als zweite Zugabe "Here comes the night time". Eindeutig selbstzitierend ist auch der Text, wenn die Band die ersten Zeilen von "Reflektor" als ersten Gesang überhaupt anstimmt: "Trapped in a prison, in a prism of light." (Eingeschlossen in einem Gefängnis, in einem Prima des Lichts.) In der Studioversion hat der wandlungsbegeisterte David Bowie einige Zeilen beigesteuert.
In ureigener Bildsprache erzählen Arcade Fire ihre Geschichte und die beginnt bei Edwin Farnham - kurz Win - Butler III., der einen Traum auslebt. Er packt als 22-Jähriger im Jahr 2000 seine Sachen, kehrt Texas den Rücken, setzt sich in die Musikmetropole Montreal ab, lernt eine Frau kennen und gründet mit ihr und weiteren Musikern eine Band. Später zieht sein Bruder Will nach und das Traum- und Familienglück ist perfekt.
Das ist auch die Geschichte des etwas älteren Win Butler, der glaubt, in einem Traum zu leben. Seine Frau Régine Chassagne bringt 2013 den gemeinsamen Sohn zur Welt und Arcade Fire sammelt mit "The Suburbs" Auszeichnungen für das vielseitigste und detailverliebteste Stück Indiepop zu einer Zeit, als das Genre seinen Zenit gerade zu überschreiten droht. Arcade Fire sind auf dem Olymp anspruchsvoller und gleichzeitig tanzbarer Musik angekommen - kein Widerwort der Kritik. Ein gefährlicher Punkt im Schaffensprozess einer erfolgreichen Band und im Privatleben ihrer Mitglieder. Zeit für einen Realitätscheck.
Arcade Fire lassen gesamtes Werk auferstehen
Ein in Spiegel gehüllter Sonderling kündigt die Band als Arcade Fire in Berlin an. Spiegel um Spiegel hängen von der Bühnendecke. Zudem unterstützt ein Altbekannter die Band: Owen Pallett, der bereits zum ersten Album "Funeral" die Geige einspielte. Auf der Leinwand erscheinen offenbar willkürliche, dennoch eindeutig abgestimmte Bilder: Visualizer aus Windows-Media-Player-Zeiten und farbige Palmsilhouetten, die an das Cover von "The Suburbs" erinnern. Doch die Effekte verschwinden in den Hintergrund, sobald das wichtigste Element auftaucht. Bild in Bild in Bild: Erst die einzelnen Mitglieder, irgendwann mit Publikum und eingespielten Tänzern und schlussendlich überlagern sich alle Elemente gegenseitig.
Eine Band stellt sich selbst und ihr Publikum auf die Probe und das mit dem Klang ihrer größten Songs: "Rebellion (Lies)", "We used to wait", "Ready to start", "Sprawl II" und um die letzten Zweifel auszuräumen, bleibt nur zu sagen "Wake up". An diesem Abend lassen Arcade Fire ihr gesamtes Werk auferstehen und bewerten es neu. Mit einem klaren Resultat: Wir sehen, dass es gut war.