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Interview: Hurrikan Matthew: Die vergessene Katastrophe

Interview

Hurrikan Matthew: Die vergessene Katastrophe

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    Wo Hurrikan Matthew wütete, steht nichts mehr. 2,1 Millionen Menschen sind von den Folgen des verheerenden Wirbelsturms in Haiti betroffen.
    Wo Hurrikan Matthew wütete, steht nichts mehr. 2,1 Millionen Menschen sind von den Folgen des verheerenden Wirbelsturms in Haiti betroffen. Foto: Jürgen Schübelin

    Jürgen Schübelin ist Referatsleiter der Kindernothilfe für die Karibik und Lateinamerika. Er ist seit zwölf Tagen in Haiti, wo vor zwei Wochen Hurrikan Matthew wütete und dabei verheerende Zerstörungen angerichtet hat. Im Karibikstaat herrscht seither bittere Not und Chaos. Für die Augsburger Allgemeine hat Schübelin die wichtigsten Fragen beantwortet.

    Vor sechs Jahren wurde Haiti von einem schweren Erdbeben erschüttert, bei dem 300000 Menschen ums Leben kamen. Davon hat sich der Karibikstaat trotz Milliardenhilfen bis heute nicht erholt. Dann kam Hurrikan Matthew vor gut zwei Wochen. Wie ist heute die Lage im Land?

    Jürgen Schübelin: Bei dem Erdbeben damals war vor allem die Hauptstadt Port-au-Prince betroffen, hier kam sofort internationale Hilfe an. Der Wirbelsturm Matthew hat die Peripherie der Peripherie zerstört – also Gegenden, die zu den völlig vergessenen Gebieten Haitis gehören.

    Wie geht es der Landbevölkerung?

    Schübelin: An der Südküste hat der Hurrikan großflächig ganze Landstriche zertrümmert – viel großflächiger als beim Erdbeben damals. Über die 35.000-Einwohner-Stadt Port-à-Piment zum Beispiel ist er wie ein Rasenmäher darübergefahren und hat 90 Prozent aller Häuser zerstört. Sogar dicke Betonwände wurden eingerissen. Der Sturm war 220 Stundenkilometer stark – dem hält nichts stand. Auch die Vegetation nicht. Es gibt keine Bäume mehr, keine Büsche, keine Pflanzen. Selbst 50 Jahre alte Mangobäume hat Matthew umgerissen. Die Palmen, die Tiefwurzler sind, wurden einfach umgeknickt. Die Anbauflächen, von denen die Menschen in der Gegend leben, sind zerstört, ebenso die Boote der Fischer.

    "Die Menschen hungern"

    Wovon leben die Menschen jetzt?

    Schübelin: Sie hungern. Die Haitianer sammeln auf den Wellblechen, die einmal ihre Dächer waren, das Regenwasser – damit sie etwas zu trinken haben. Außer der Kindernothilfe ist hier noch keine Hilfsorganisation angekommen. Wir haben als Nothilfe Nahrungsmittel verteilt.

    Es gibt kaum Spenden für das ohnehin bitterarme Haiti, auch UN-Generalsekretär Ban Ki Moon ist von der schleppenden Hilfe enttäuscht.

    Schübelin: Die Menschen sagen: Haiti interessiert erst ab 100.000 Toten. Sie sind sehr verbittert darüber, dass ihre Notlage im Rest der Welt immer noch unterschätzt wird.

    Jürgen Schübelin
    Jürgen Schübelin

    Wie viele Haitianer sind durch Matthew ums Leben gekommen? Die Übergangsregierung versucht systematisch, die Zahlen herunterzuspielen – und spricht von 450 Opfern.

    Schübelin: Einige unabhängige Journalisten haben alle Bürgermeister des Landes durchtelefoniert, sie kommen – ähnlich wie verschiedene UN-Organisationen – auf deutlich über 1000 Tote. Fest steht zudem, dass allein an der Südküste mindestens 30.000 Häuser und Hütten zerstört wurden und insgesamt mehr als 1,4 Millionen Menschen unter den Folgen des Hurrikans leiden. Laut der Weltgesundheitsorganisation sind es in ganz Haiti 2,1 Millionen Betroffene.

    "Es ist viel Vertrauen verspielt worden"

    Warum schaut die ganze Welt weg?

    Schübelin: Nach dem Erdbeben 2010 ist viel Vertrauen verspielt worden, das wirkt sich in so einer Krise aus. Aber ich kann es nachvollziehen, dass es bei den Geber-Regierungen eine gewisse Müdigkeit gibt, mit einem Staat zusammenzuarbeiten, in dem eine verantwortungslose und zum Teil extrem korrupte Elite dafür sorgt, dass das Geld nicht dort ankommt, wo es ankommen soll.

    Zumal die Übergangsregierung kein Mandat hat und die Präsidentschaftswahl seit Jahren verschiebt. Wie kann man den Menschen trotzdem helfen?

    Schübelin: Es ist die richtige Entscheidung von Regierungen – wie der deutschen auch –, die Nothilfe-Gelder nicht an den haitianischen Staat zu geben, sondern der Bevölkerung über nichtstaatliche Hilfsorganisationen zu helfen.

    "Kinder sind am meisten gefährdet"

    Die Kindernothilfe baut in den zerstörten Gebieten Kinderschutzzentren auf. Wie arbeiten die?

    Schübelin: Kinder sind nach einer Katastrophe die am meisten gefährdete Gruppe. Sie brauchen einen geschützten Raum, wo sie nicht mit Erwachsenen um Wasser und Nahrung konkurrieren müssen. Sie bekommen bei uns zu essen und können beim Spielen, Singen und Tanzen das Erlebte verarbeiten.

    Und der Rest der Familie?

    Schübelin: Wenn die Kinder betreut sind, entspannt das auch die Eltern. Denn wenn Erwachsene unter Stress stehen, weil sie Nahrung oder Baumaterialen suchen müssen, geben sie diesen Stress an die Kinder weiter – oft in Form von Gewalt.

    Wie ist die Rolle der UN in Haiti?

    Schübelin: Die Bevölkerung hat große Vorbehalte gegen die Blauhelme der UN. Soldaten aus Nepal, die zum Wiederaufbau nach dem Erdbeben gekommen waren, haben die Cholera eingeschleppt. Seit Matthew verbreitet sich die tödliche Krankheit wieder rasant.

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