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Atom-Katastrophe: Experte zu Japan: „Wir müssen unsere Lehren daraus ziehen“

Atom-Katastrophe

Experte zu Japan: „Wir müssen unsere Lehren daraus ziehen“

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    Das undatierte Foto der Tokyo Electric Power Company zeigt das Atomkraftwerk in Fukushima. dpa
    Das undatierte Foto der Tokyo Electric Power Company zeigt das Atomkraftwerk in Fukushima. dpa

    Der Münchner Strahlenmediziner Prof. Edmund Lengfelder beschäftigt sich seit der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl vor 25 Jahren intensiv mit den Folgen für die Bevölkerung in dieser Region. Er gehört zu den weltweit renommiertesten Wissenschaftlern auf diesem Gebiet. Der 68-Jährige leitet das Otto-Hug-Strahleninstitut. Mit ihm sprachen wir über den Atomunfall in Japan und was geschehen könnte.

    Bundesumweltminister Norbert Röttgen sagt, man könne auch in diese nukleare Kettenreaktion in Japan bis zu einem gewissen Stadium eingreifen. Wie beurteilen Sie diese Aussage?

    Lengfelder: Wir wissen heute überhaupt nicht, wie hoch der Zerstörungsgrad oder der Schädigungsgrad der betroffenen Reaktoren ist, die schon in die Kernschmelze eingetreten sind. Insbesondere muss man davon ausgehen, dass die Mannschaft, die am Reaktor versucht, irgendwelche Wässer hineinzupumpen oder anderweitig tätig ist, hohen Strahlenbelastungen ausgesetzt ist. Um mal dieses böse Wort zu gebrauchen: Die Leute in der Nähe des Reaktors werden regelrecht verheizt.

    Gibt es Alternativen?

    Lengfelder: Nein.

    Die Internationale Atomenergiebehörde hat in einer Bewertungsskale für nukleare Ereignisse, die von 0 bis 7 reicht, den Störungsschweregrad mit 4 bewertet: ein „Unfall“, bei dem geringe Strahlenmengen freigesetzt werden. Teilen Sie diese Ansicht?

    Lengfelder: Wenn eine Kernschmelze eingetreten ist, dann sind wir bei Stufe 7, dem Super-GAU. Da brauchen wir nicht mehr zu diskutieren. Im Übrigen hat die Internationale Atomenergieorganisation IAEA mit ihren Wissenschaftlern die Folgen von Tschernobyl untersucht und noch im Mai 1991 auf dem Weltkongress in Wien behauptet, es gäbe keine Gesundheitsschäden, die auf eine Strahlenbelastung zurückgeführt werden könnten. Das war eine faustdicke Lüge.

    In Japan werden Jodtabletten verteilt. Ist das wirkungsvoll?

    Lengfelder: Die Jodtabletten sollen vor Schilddrüsenkrebs schützen. Man nimmt stabiles Jod mit Flüssigkeit ein. Das ist in einer so hohen Konzentration, dass dann die Schilddrüse mit Jod gesättigt ist. Wenn radioaktives Jod danach ankommt, kann es nicht mehr in die Schilddrüse gelangen. Der Schutzfaktor bei der rechtzeitigen Jodblockade liegt bei über 95 Prozent. Das hilft aber nur gegen Jod, nicht gegen die anderen Radionuklide.

    Was könnte noch freigesetzt werden?

    Lengfelder: Bei jedem Super-GAU werden zunächst die kurzlebigen Nuklide freigesetzt, das ist vor allem Jod – und dann sind es dosiswirksame Nuklide wie Cäsium und Strontium. Von der biologischen Gefährlichkeit ist vor allem das Plutonium zu nennen.

    Wie wirken sich diese Stoffe auf den menschlichen Organismus aus?

    Lengfelder: Das Cäsium verteilt sich im ganzen Körper. Das Strontium ist ein reiner Betastrahler, den man mit dem Geigerzähler gar nicht messen kann. Es wird überwiegend über die Nahrung aufgenommen und geht direkt in die Knochen. Dort wird das rote Knochenmark geschädigt, der Ort der Blutbildung – mit dem Risiko von Leukämie.

    Reicht eine Evakuierungszone von 20 Kilometern um das Kraftwerk aus?

    Lengfelder: Das hängt von der Windrichtung ab. Es können auch 100 Kilometer nötig sein. Es gibt noch einen anderen Punkt: Die Menge an freigesetzten radioaktiven Stoffen kann bei einem Super-GAU etwa bis 20 Mal höher sein als in Tschernobyl.

    Warum das?

    Lengfelder: Der Reaktor in Tschernobyl diente überwiegend der Erzeugung von Plutonium für die Waffentechnik. Bei diesem Reaktortyp werden Brennelemente nach wenigen Wochen ausgetauscht. Bei uns und in Japan bleiben Brennelemente, die zur Stromerzeugung genutzt werden, drei Jahre und länger. Mehr Spaltprodukte sammeln sich an. Wenn es zur Kernschmelze kommt, kann alles freigesetzt werden.

    Nach allem, was von Experten bislang vorhergesagt wird, scheint die Gefahr, dass radioaktive Stoffe nach Deutschland gelangen, sehr gering zu sein.

    Lengfelder: Wir werden das messen können, das ist keine Frage. Aber ich schließe mit allen Erfahrungen aus, dass hier gesundheitliche Auswirkungen zu befürchten sind.

    Welche Folgen hat der Atomunfall in Japan für die Umgebung?

    Lengfelder: Wie lange eine kontaminierte Landfläche unbewohnbar bleibt, kann erst nach Messungen gesagt werden. Generell nimmt man zehn Halbwertszeiten bei Strontium und Cäsium an. Das sind zwei langlebige, biologisch relevante gefährliche Radionuklide – und die haben eine Halbwertszeit von 30 Jahren. Das bedeutet: Die verstrahlte Umwelt ist 300 Jahre nicht bewohnbar. Die Frage ist, wo der japanische Staat mit einer derart großen Besiedelungsdichte auf Dauer mehrere hunderttausend Menschen unterbringen will.

    Die Diskussion um die Atomkraft ist in Deutschland wieder in vollem Gange nach der Katastrophe in Japan.

    Lengfelder: Ich halte es für dringend erforderlich, dass Lehren daraus gezogen werden. Nach Tschernobyl wurde beruhigt, wir hätten keine Reaktoren dieses Typs und sowieso eine andere Sicherheitskultur. Mit Japan ist ein Land betroffen, das technologisch betrachtet an der Spitze steht. Die beim Bau der Atomkraftwerke einkalkulierte mehrfache Sicherheitsreserve hat nicht ausgereicht. Und Japans Ingenieure sind ja auch keine Idioten.

    Ein Argument lautet, dass die Gefahr für Atomkraftwerke durch Erdbeben in Japan ungleich höher ist als hierzulande.

    Lengfelder: Das ist zu kurz gegriffen. Wir haben in Deutschland acht völlig überalterte Reaktorblöcke, die sofort abgeschaltet werden müssten. Bei uns haben Ingenieure bei der Reaktorplanung in den 70er Jahren nicht alle Faktoren einbezogen oder sie falsch bewertet.

    Was denn?

    Lengfelder: Etwa die Ausrichtung und die Diversifizierung der Kühleinrichtungen, die Stabilität und die Korrosionsfestigkeit des Stähle. Außerdem: Baden-Württemberg ist ein bekanntes Erdbebengebiet. Wissen wir, ob da heute oder morgen oder in fünf Tagen oder zehn Jahren ein Erdbeben ist? Sicher ist nur: Unsere Reaktoren sind im Gegensatz zu den japanischen nicht in dem Ausmaß für diese Erdbebenkräfte ausgelegt.

    Was heißt das also?

    Lengfelder: Für mich ist die Wahrscheinlichkeit, dass es in älteren Reaktoren – sei es in Krümmel oder Brunsbüttel oder in Isar 1 – zum Super-GAU kommt, genauso hoch wie in Japan.

    Das klingt beunruhigend.

    Lengfelder: Das ist aber Realität.

    Interview: Till Hofmann

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