Der alte Mann trägt nur dünne Schlafklamotten und eine gestreifte Decke über den Schultern. Die Beine sind nackt. Doch die Füße, die sind dick eingepackt. Nicht fachmännisch mit Bandagen. Provisorisch mit Handtüchern. Schritt für Schritt geht er die Stufen einer langen Stahlleiter hinunter. Ganz langsam. Von vorne und von hinten stützen ihn Helfer. So betritt der alte Mann italienischen Boden.
Feuerdrama auf der Fähre "Norman Atlantic"
Schwere Fährunglücke im Mittelmeer
Hier ein Überblick über größere Unfälle mit Fährschiffen im Mittelmeer:
28. Dezember 2014: Auf der "Norman Atlantik" bricht vor Korfu Feuer aus. Ein Mensch stirbt, hunderte Passagiere geraten in Seenot.
16. Januar 2007: Vier Menschen sterben und fast 90 werden verletzt, als in der Meerenge von Messina eine Schnellfähre mit einem Containerschiff zusammenprallt.
26. September 2000: Die griechische «Express Samina» läuft vor der Ägäisinsel Paros auf ein Riff und geht binnen weniger Minuten unter. 81 der etwa 560 Menschen an Bord ertrinken.
1. November 1999: Etwa 15 Seemeilen vor der westgriechischen Küste gerät die Fähre «Superfast 3» in Brand. 14 blinde Passagiere kurdischer Abstammung kommen ums Leben.
10. April 1991: Die italienische Fähre «Moby Prince» stößt vor Livorno mit dem Öltanker «Agip Abruzzo» zusammen und geht in Flammen auf. 140 Menschen sterben. (dpa)
Hier im Hafen von Bari in Apulien ist er sicher. Endlich sicher. Er ist stark unterkühlt, gerade die Füße haben unter der Kälte gelitten, und er wird umgehend ins Krankenhaus gebracht. Und doch hatte er großes Glück. Er lebt. Der alte Mann gehört zu den 49 geretteten Passagieren der Mittelmeer-Fähre „Norman Atlantic“, die schon am Sonntag, wenige Stunden nach Beginn des Feuerdramas, von einem Frachter aufgelesen worden waren. Er saß in einem auf stürmischer See treibenden Rettungsboot, einem von zweien, die noch soeben hinabgelassen worden waren, ehe auf der Fähre der Strom ausfiel und nichts mehr ging. Sein Zustand zeigt aber, dass auch diese 49 Menschen Schlimmes durchgemacht haben. „Die Angst, es zu schaffen oder nicht, die Kälte und die hohen Wellen, es war ganz furchtbar“, sagt eine Frau.
Es ist Montag kurz vor neun in der Früh, als Passagier für Passagier den Frachter „Spirit of Piraeus“ im Hafen von Bari verlässt. Unter ihnen zwei der 18 Deutschen, die an Bord der „Norman Atlantic“ waren – einer aus Saarbrücken, der andere aus Berlin, wie eine Mitarbeiterin des deutschen Konsulats vor Ort berichtet. Damit sagt sie schon weitaus mehr, als ihr Dienstherr, das Auswärtige Amt, in der Regierungspressekonferenz in Berlin mitzuteilen gedenkt. Nein, er werde nicht einmal sagen, aus welchen Bundesländern die „weniger als 20“ Deutschen kommen, sagt der Sprecher des Ministeriums. Das liege am Persönlichkeits- und Datenschutzrecht – „Sie wissen, das ist gute Praxis hier“ – und sage er es doch, brauche man nur eins und eins zusammenzuzählen, am Ende wisse man doch, um wen es sich handeln könnte.
Der Frachter, der nun in Bari die ersten Geretteten an Land bringt, sollte eigentlich weiter südlich in Brindisi anlegen. Doch dort machte das Wetter einen Strich durch die Rechnung. So ging es fast die ganze Nacht hindurch weiter nach Bari, wo sich Zivilschutz und Sanitätseinheiten in aller Eile auf den Notfall vorbereitet hatten.
Schnell wird an diesem Morgen deutlich, dass der alte Mann der am schwersten Verletzte unter den 49 ist. Die meisten anderen werden nur kurz in die Notaufnahme gebracht und schon bald darauf wieder entlassen. Auf einige warten schon Verwandte, andere überlegen noch, wie es jetzt weitergehen soll.
„Ich will nur nach Hause“, sagt ein Mann auf Englisch. Wie alle anderen besitzt er lediglich noch das, was er auf dem Leib trägt. Kleidung, Koffer, Auto – gut möglich, dass das Feuer auf der Fähre alles vernichtet hat. Die Menschen sehen mitgenommen aus, aber erleichtert, dass es für sie vorbei ist.
Gerettete sprechen von Chaos an Bord der Fähre
Sie sprechen von einem Chaos, das das Feuer an Bord ausgelöst habe. „Man hat uns keine Anweisungen gegeben. Es gab nur einen einzigen Notausgang auf Deck 6 in Richtung Bug“, sagt eine griechische Passagierin. „Es herrschte dort absolute Panik wegen des Gedränges. Es gab keinerlei Koordination, niemand hat die Leute beruhigt.“ Das größte Rettungsboot für 150 Menschen sei nur mit 60 Leuten besetzt gewesen. „Das Personal war praktisch nicht vorhanden.“ Die Frau redet sich regelrecht in Rage. Das Schiff der griechischen Linie Anek Lines sei in letzter Minute ausgetauscht worden. „Wir hätten eigentlich mit einem anderen fahren sollen. Wir fühlten uns, als ob wir in die Dritte Welt reisen sollten.“
Wie dramatisch die Ereignisse auf der Fähre gewesen sein müssen, wird deutlich, als Teodora Douli im Krankenhaus ihre Geschichte erzählt. „Mein Mann und ich sind mehr als vier Stunden im Wasser gewesen. Ich wollte ihn retten, habe es aber nicht geschafft. Er sagte: ,Wir sterben, wir sterben‘.“
Zu dem Zeitpunkt gehen die italienischen Behörden noch davon aus, dass der Mann das einzige Todesopfer ist. Sie sollten sich täuschen. Denn was einer der türkischen Passagiere in Bari erzählt, stellt sich später als wahr heraus: „Ich habe vier tote Menschen im Rettungsboot gesehen, ich glaube, zwei Männer und zwei Frauen. Aber das weiß ich nicht ganz genau, es war so dunkel.“ Mindestens fünf Todesopfer also. Am Abend ist dann von zehn die Rede. An die 40 Personen, heißt es da, werden noch vermisst.
Fährunglück in Adria: Zahl der Toten könnte steigen
Die Zahl der Toten könnte also weiter steigen, zumal die Behörden deutlich machen, dass auf der Liste der Geretteten Namen stehen, die nicht auf den Passagierlisten auftauchen. Gut möglich, dass sich blinde Passagiere an Bord befanden. Die Seeverbindung mit Zielhafen Ancona wird immer wieder auch von Flüchtlingen aus Afrika genutzt.
Was Rettungsaktionen auf brennenden Schiffen so schwierig macht
Die Rettungsaktion auf der „Norman Atlantic“ hat fast zwei Tage gedauert. Zu lange?
So einfach ist das nicht, sagt Antke Reemts von der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger in Bremen. Sie erklärt, was Einsätze auf hoher See so schwierig macht.
Die Dauer des Einsatzes Grundsätzlich ist die große Schwierigkeit das schlechte Wetter. Bei so einer Rettungsaktion werden Schiffe, die dort im Umfeld irgendwie helfen können, herangezogen. Sie sind aber nicht dafür ausgelegt, dass auf See Menschen von einem Schiff aufs andere übersteigen.
Bei schwerem Wetter mit hohem Seegang bewegt sich das große Schiff auch ganz anders als das kleinere, danebenliegende. Wenn man sich vorstellt, dass die Schiffe dann noch ständig Berührung haben, kann man sich vorstellen, wie schwierig es sein kann, einen sicheren Überstieg für Passagiere möglich zu machen.
Der Einsatz von Hubschraubern geht nur an bestimmten Orten auf einem Schiff. Sie brauchen eine freie Grundfläche, damit dort überhaupt eine Winde runtergelassen und mit Menschen wieder hochgeholt werden kann.
Sie haben auf einem Schiff Aufbauten, Antennen und anderes, was im Weg sein kann. Wenn Sie dann noch Rauch haben durch ein brennendes Schiff, gibt es die zusätzliche Schwierigkeit, dass die Sicht nach unten für den Piloten und den Mann an der Winde erheblich eingeschränkt ist.
Die Gefahr des Sinkens: Es ist immer eine Schwierigkeit, dass Sie in ein brennendes Schiff nicht unendlich Wasser reinpumpen können, weil es die Schiffsstabilität verändert und das Schiff gefährdet.
Deshalb versucht man bei Bränden, auch mit Schaum und Schaumzumischungen zu löschen, um einfach nicht zu viel Wasser in ein Schiff zu pumpen.
Das Löschen des Schiffes: Ein Schiff hat eine komplexe Struktur, es hat viele Decks, es sind viele Kabel verlegt, es hat viele Zwischenräume. Man muss sich das wie bei einem Hausbrand vorstellen.
Es ist immer schwierig, Brände zu löschen, die sich komplex ausgedehnt haben. Sie haben nicht eine brennende Fläche, sondern Sie haben den Brand in vielen Strukturen eines Schiffes. Vielfach kommt man an die Brände nicht ran. (dpa)
Die ganze Nacht über, vor allem aber im Laufe des Montags werden die letzten gut 200 der insgesamt 478 Menschen vom Deck der „Norman Atlantic“ geholt – per Hubschrauber, jeder einzelne mühsam mithilfe einer Seilwinde. Immer noch ist die See stürmisch, immer noch lodern Flammen auf der Fähre. Die meisten Passagiere werden auf das Schiff „San Giorgio“ geflogen, was in die Nähe der Unglücksstelle gefahren ist. Es hat einen Hubschrauber-Landeplatz und auch eine Sanitätsstation. Das Schiff, so ist es vorgesehen, soll die Geretteten nach Brindisi bringen. Andere Überlebende landen in Griechenland. Vereinzelt steuern Hubschrauber auch direkt Krankenhäuser in Süditalien an.
Der elfjährige Marco etwa liegt im Krankenhaus von Copertino und wartet auf Nachricht von seinem Vater, der noch auf der Fähre ist. „Geht es Papa gut? Wo ist er? Wann holt er mich ab?“, fragt der Kleine in die Mikrofone von Journalisten.
Am Mittag geht schließlich auch die Besatzung der Fähre von Bord. Zurück bleibt zunächst nur Kapitän Argilio Giacomazzi, 62, wie es sich für den Kommandanten eines Unglücksschiffs gehört. Später darf auch er das Schiff verlassen. Die italienische Rettung, unterstützt von griechischen und albanischen Kräften, sei hervorragend gewesen, lobt Ministerpräsident Matteo Renzi.
Viele Parallelen zur Havarie der Costa Concordia vor drei Jahren, wie manche schnell vermuten, gibt es nicht. Die Hilfe hat diesmal funktioniert. Auch vom Kapitän wird nur Gutes berichtet. Das schlechte Wetter hat das Unglück verschlimmert, darin ist man sich einig. Fünfmal zum Beispiel ist das Tau gerissen, mit dem die Fähre verankert und so nach Brindisi abgeschleppt werden soll. Erst dann hat dieses Manöver funktioniert.
Unklar ist allerdings, ob die etlichen kleinen Sicherheitsmängel, die mittlerweile bekannt geworden sind, nicht die Rettungsarbeiten beeinflusst haben. Die italienische Justiz hat eine Untersuchung eingeleitet. (mit sari und anf)