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Zehn Jahre nach dem Amoklauf: Der lange Schatten von Erfurt

Zehn Jahre nach dem Amoklauf

Der lange Schatten von Erfurt

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    Seit dem Amoklauf von Erfurt vor zehn Jahren haben Schützen und andere Waffenbesitzer einen schweren Stand in Deutschland. Die Diskussion über scharfe Schusswaffen in Privathand flammt immer wieder auf. Ein Verbot fordern die einen. Das würde nur den Schwarzmarkt beleben, entgegnen die anderen. 	Foto: imago (Archivbild)
    Seit dem Amoklauf von Erfurt vor zehn Jahren haben Schützen und andere Waffenbesitzer einen schweren Stand in Deutschland. Die Diskussion über scharfe Schusswaffen in Privathand flammt immer wieder auf. Ein Verbot fordern die einen. Das würde nur den Schwarzmarkt beleben, entgegnen die anderen. Foto: imago (Archivbild) Foto: DPA

    Erfurt, der Name der Stadt hat sich ins Gedächtnis der Nation eingebrannt. Er steht für blindwütige Gewalt an einer Schule.

    Es ist der 26. April 2002, ein milder sonniger Frühlingstag. Am Morgen verabschiedet sich der Schüler Robert Steinhäuser von seinen Eltern. Er sagt, er werde zur Abiturprüfung gehen. Es ist eine Lüge. Denn er war dazu gar nicht zugelassen.

    Um 10.45 Uhr betritt der 19-Jährige das Gebäude. Er fragt beim Hausmeister nach der Direktorin. In einer Toilette vermummt er sich und überprüft seine Pistole. Über seinem Rücken hängt eine Pumpgun: Ab 10.58 Uhr knallen Schüsse in dem altehrwürdigen Schulhaus. Steinhäuser durchstreift die langen Gänge. Er schießt um sich, schießt durch Türen, hinter denen sich Lehrer und Kinder verschanzt haben. Er will töten, egal wen. Amok: Die dunkle Seite des Alltags - Was geht in Amokläufern vor?

    16 Menschen getötet

    Es dauert nur eine knappe Viertelstunde. Dann hat der frühere Schüler 16 Menschenleben ausgelöscht, zwölf Lehrer, zwei Schüler, die Sekretärin und einen Polizisten. Er flieht. Später erschießt sich der Todesschütze selbst. 71 Patronenhülsen aus der Pistole des Täters finden die Ermittler im Erfurter Gutenberg-Gymnasium. Steinhäuser ist Mitglied in einem Schützenverein. Er hat eine Waffenbesitzkarte.

    Amokläufe: Von Texas über Winnenden bis Oslo

    Der 1. August 1966 gilt als Auftakt der seitdem nicht mehr abgerissenen Serie von Amokläufen: An der Universität von Texas schießt ein Mann mehr als eine Stunde lang von einem Turm der Uni herunter auf Menschen. 14 Personen kommen ums Leben.

    Am 16. Oktober 1991 bringt in Killeen (Texas) ein Mann in einem Café 23 Personen um. Anschließend richtet er sich selbst.

    20. April 1999: Die beiden Schüler Eric Harris und Dylan Klebold stürmen die Columbine High School in Littleton in den USA. Sie töten dort zwölf Schüler und einen Lehrer. 24 weitere Personen werden verletzt. Danach richten sich die Amokläufer selbst. Diese Tat gilt als zweiter Auftakt von Amokläufen und als Beginn des Schul-Amoks.

    Der erste Schulamok in Deutschland findet am 26. April 2002 statt: Am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt tötet der 19 Jahre alte Schüler Robert S. 16 Menschen. Danach richtet er sich selbst. Der Amokläufer war ein Jahr zuvor von der Schule verwiesen worden.

    In Emsdetten schießt ein 18-Jähriger 20. November 2006 in seiner ehemaligen Schule um sich. Mehrere Menschen werden verletzt. Dann tötet sich der Täter selbst.

    Am 16. April 2007 erschießt ein Mann an der Technischen Universität von Virginia 32 Menschen und verletzt 15 weitere. Es ist der folgenschwerste Amoklauf in der Geschichte der USA.

    Der Amoklauf von Winnenden am 11. März 2009: Der 17 Jahre alte Tim K. tötet 15 Menschen. Nachdem einer mehrstündigen Flucht vor der Polizei tötet er sich selbst.

    Am 22. Juli 2011 lässt der spätere Amokläufer Anders Behring Brevik eine Autobombe in Oslo detonieren. Danach fährt er auf die nahegelegene Insel Utoya und tötet etwa 70 Jugendliche.

    Bei einem Amoklauf im belgischen Lüttich tötet ein 33-jähriger Belgier am 13. Dezember 2011 sechs Menschen und verletzt 124 weitere Opfer.

    In Serbien erschießt ein Mann im April 2013 insgesamt 13 Verwandte und Nachbarn, darunter sechs Frauen und ein kleines Kind.

    Johann Spatz sitzt in seinem Büro in Bobingen bei Augsburg und dreht eine Patrone nachdenklich zwischen den Fingern. Über 30 Jahre hat der heute 71-Jährige ein Waffengeschäft geführt, mittlerweile vermietet er den Laden an eine Versicherung. Er selbst verkauft seine Ware nach wie vor – aus dem Büro im Hinterzimmer.

    Erst kürzlich, so erzählt er, habe er im Fernsehen eine Diskussion zum Amoklauf in Erfurt gesehen. Er habe dann den Sender gewechselt. „Ich kann das einfach nicht mehr hören“, sagt er. Immer die gleichen extremen Argumente. Er könne die Wut der Angehörigen von Amoklauf-Opfern auf Schützen und Waffenbesitzer zwar verstehen: „Es ist nicht einfach, dass ein junger Bursche an Waffen kommt und ihr Glück auslöscht“, sagt er. Aber was soll man machen?“, fragt er kopfschüttelnd.

    Waffenhändler: Amokläufe nicht zu verhindern

    Spatz kennt die Argumente des Für und Wider. Er ist der Meinung, dass Amokläufe nicht zu verhindern sind. Dass es sie gibt, liege nicht an den Waffen, sondern an den Menschen. „Was unserer Gesellschaft fehlt, ist der Respekt voreinander.“

    Dem Bobinger, der den Schützenklub „Edelweiß“ in der Kleinstadt vor Jahrzehnten mitgegründet hat, ist dieser Respekt nicht abzusprechen. Er strahlt Ruhe und Besonnenheit aus. Man nimmt es ihm ab, dass er seine Waffen niemals missbrauchen würde. Die rund 50 Gewehre und Pistolen, die er zum Verkauf hat, sind sorgfältig in gut gesicherten Waffenschränken verwahrt. Für deren Schlüssel hat er einen eigenen Tresor, dessen Zahlenkombination nicht einmal seine Frau, sondern nur er selbst kennt.

    Waffen faszinierten Spatz früh: Er habe schon als Kind gespürt, dass ihm Schießen Freude bereite, erzählt der Geschäftsmann. Erklären ließen sich diese Gefühle nicht. Während bei anderen nach den Cowboy-und-Indianer-Spielen in der Kindheit das Interesse irgendwann nachlässt, ist sie bei ihm geblieben. Er wurde Sportschütze, war viele Jahre im Verband aktiv tätig, zuletzt als Bezirksschützenmeister, und er verdient seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Waffen.

    Vorbildlicher Schütze

    Spatz ist so etwas wie ein vorbildlicher Schütze – so wie wahrscheinlich die meisten der knapp 500.000 Mitglieder des Bayerischen Sportschützenbundes, der sich aus fast 5000 Vereinen zusammensetzt. Sie pflegen Brauchtum und Tradition und waren vor noch nicht allzu langer Zeit beliebter als Fußballklubs. Von der bayerischen Politik werden sie bisher nicht in Frage gestellt. Ministerpräsident Horst Seehofer warnte nach dem Amoklauf von Winnenden, sämtliche Sportschützenvereine zu verurteilen. Sie und Jäger seien ein wichtiger Bestandteil der Gesellschaft.

    Die Mitglieder des Schützenvereins Edelweiß treffen sich an jedem Freitag. „Wir haben Übungsabend mit der Luftpistole“, erzählt Spatz. Zehn bis 15 Leute würden kommen. Man sitze zusammen, tausche sich aus, trinke gemeinsam, verbringe vergnügte Stunden. „Warum sollte man so etwas verbieten?“, fragt er.

    Selbst Hardy Schober hat gegen Schützenabende wohl nichts einzuwenden. Dabei gehört er zu den engagiertesten Waffengegnern der Republik. Schober meint: Hätte die Politik nach Erfurt die richtigen Konsequenzen gezogen, wäre seine Tochter Jana noch am Leben.

    So aber wurde die 15-Jährige am 11. März 2009 in der schwäbischen Kleinstadt Winnenden erschossen. Von einem zornigen jungen Mann, dessen Vater zu Hause Waffen hortete. Der halbwüchsige Tim Kretschmer hatte Zugang zur Schnellfeuerpistole seines Vaters. Im Februar 2011 wurde dieser wegen fahrlässiger Tötung zu 21 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.

    Kampf gegen Waffen

    Seit dem Amoklauf fokussiert Schober, der früher in der Finanz- und Immobilienbranche tätig war, sein Leben auf den Kampf gegen Waffen, vor allem großkalibrige. Er gründete zusammen mit Gleichgesinnten die Stiftung „Gegen Gewalt an Schulen“. Erst vor wenigen Wochen veröffentlichte er das Buch „Mein Sonnenkind“. Der 52-Jährige erzählt darin von der Wut und der Ohnmacht nach Janas Tod. „Jana hat mir damals einen Auftrag gegeben. Sie soll ihr Leben nicht auf so sinnlose Weise verloren haben“, schreibt er.

    Schober fordert bis heute ein Verbot der großkalibrigen Waffen und der Kurzwaffen in Privathaushalten. Und er will ein Verbot von Killerspielen. Er werde nicht eher ruhen, bis es durchgesetzt ist, sagt der Familienvater, dem noch eine heute elfjährige Tochter geblieben ist.

    Doch das ist leichter gesagt als getan. Die Lobby der Waffenliebhaber und der Computerspielindustrie versuche alles, seine Bemühungen zu torpedieren, sagt er.

    Waffengegner erhält Morddrohungen

    Bisweilen ist es mehr als das. Schober hat sich mit seinem Engagement Feinde gemacht. Unbekannte Gegner. Er bekomme Morddrohungen, meist per E-Mail, fast immer anonym, berichtet er. „Sie legen sich mit bewaffneten Menschen an. Ich wünsche Ihnen, dass Sie durchsiebt aufgefunden werden ...“, heiße es in einem Drohschreiben. Schober sagt: „Unter den 1,5 Millionen Schützen in Deutschland gibt es wenige schwarze Schafe. Für Liebhaber großkalibriger Waffen bin ich ein Feindbild.“

    Spatz, der als passionierter Jäger selbst auch großkalibrige Waffen besitzt, glaubt, dass auch deren Verbot nicht vor Amokläufen schützen werde. Im Gegenteil: Er vermutet, dass sich als Folge im Lande ein reger Schwarzmarkt entwickeln würde. Dann werde die Lage völlig unübersichtlich. Er selbst, so betont er, werde seine Waffen in den kommenden Monaten weitestgehend verkaufen und das Geschäft aufgeben. Den Rest will er, bis auf einen persönlichen Restbestand, beim Landratsamt abgeben. Seine Leidenschaft für Schießgeräte lasse jetzt im Alter nach, meint Spatz. Dafür lese er mittlerweile gerne Bücher. Spricht’s und lächelt ein wenig erschöpft. Im Grunde möchte er über das Thema Waffen nicht mehr diskutieren: 100 Prozent Sicherheit gebe es nicht. Eine Welt ohne Waffen sei eine Utopie, sagt Spatz.

    Damit ist er sich mit Christiane Alt einig. Die heute 56-Jährige war schon zur Zeit des Amoklaufs Rektorin des Gutenberg-Gymnasiums und ist es noch immer. Jetzt, zehn Jahre danach, wird sie mit der Bluttat wieder konfrontiert. Journalisten kommen, sie muss Antworten geben. Doch sie hat selbst keine.

    Schul-Rektorin: Man kann den Menschen nicht in den Kopf schauen

    Stattdessen weist sie in einem Interview darauf hin, dass Strategien zur gewaltfreien Konfliktlösung inzwischen stärker trainiert würden. Trotzdem gebe es keine Sicherheit vor Amokläufen, fügt die Direktorin hinzu. Da man Menschen nicht in Kopf und Herz sehen könne, seien solche Gewaltexzesse kaum vorhersehbar. Erfurt und Winnenden hätten gezeigt, dass Amokläufe überall passieren könnten. Warnende Hinweise, die junge Menschen durch ihr Verhalten geben, müssten allerdings sehr ernst genommen werden, betont sie.

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