Unter den Schuhen knirscht es. Jeder Schritt ist ein Risiko. Links, rechts und auf dem Pfad tun sich Risse auf. Sie reichen so tief in den Berg hinein, dass ein ganzes Bein darin verschwinden könnte. Risse, Löcher und Gräben – das steinige Terrain rund um die Bergstation Moosfluh in den Schweizer Alpen auf 2334 Metern Höhe ist übersät davon. „Wir nennen diese Risse einen Hackenwurf“, ruft Peter Schwitter und hebt einen Stein auf. Die Risse auf der Moosfluh vertiefen und verlängern sich immer stärker, Gestein löst sich und stürzt ab. Irgendwann droht hier ein gigantischer Bergsturz.
Peter Schwitter stapft weiter. Der Naturgefahren-Beobachter des Schweizer Kantons Wallis, ein drahtiger Mittfünfziger, der alle Viertausender der Alpen bezwungen hat, richtet seinen Blick nach Norden, auf den Giganten, der dort liegt: der Große Aletschgletscher, der größte Gletscher der Alpen.
Das Große Aletsch ist ein Wunderwerk - und dem Untergang geweiht
Der Eisstrom schlängelt sich 23 Kilometer durch das Hochgebirge, elegant und mächtig, umsäumt von markanten Bergen wie Mönch und Jungfrau. Die 82 Quadratkilometer große Fläche bildet das Herzstück des Unesco-Weltnaturerbes „Schweizer Alpen Jungfrau-Aletsch“. Es ist ein einzigartiges Wunderwerk der Natur. Eines, das dem Untergang geweiht ist.
„Der Aletsch verschwindet, langsam, aber sicher“, erklärt Schwitter. Sein gebräuntes Gesicht nimmt ernste Züge an, wenn er auf den Klimawandel zu sprechen kommt. Durch die steigenden Temperaturen taut das Eis in dem riesigen alpinen Gefrierfach. Auf einer farbigen Karte mit Linien und Höhenangaben zeichnet Schwitter den Schwund nach. Seit 1892 hat sich der Aletsch pro Jahr im Schnitt um 23 Meter verkürzt. Zuletzt ging es immer schneller, pro Jahr büßte er nach Angaben des Schweizer Bundesamts für Umwelt bis zu 50 Meter ein. Gleichzeitig sackte der Eispanzer immer tiefer in sein Bett. Der größte Gletscher der Alpen verliert an Höhe und Masse. Das wirkt sich nun direkt auf die Stabilität der angrenzenden Bergflanke, der Moosfluh, aus. Jahrhundertelang stützte das Eis den Berg, übte Druck auf den Fels aus. Doch nun fehlt das Eis – und somit der Druck. „Deshalb will der untere Teil des Berges einfach weg“, sagt Schwitter. „Und deshalb entstehen oben auf der Moosfluh die Risse.“
Hier könnte die 40-fache Geröllmenge herunterkommen wie in Graubünden
Im gesamten Gebiet der Bergflanke rutscht eine rund zwei Quadratkilometer große Fläche in Richtung Aletschgletscher, heißt es aus dem Bundesamt für Umwelt. Mindestens 150 Millionen Kubikmeter Fels sind in Bewegung. Das ist fast 40 Mal so viel wie bei dem gewaltigen Bergsturz am Piz Cengalo, wo vor knapp zwei Wochen vier Millionen Kubikmeter Gestein abgebrochen waren. Die folgende Gerölllawine donnerte kilometerweit ins Tal und verschüttete wohl acht Wanderer, darunter vier Deutsche.
Dort, im Kanton Graubünden, versuchen derzeit Bagger, die Steinmassen zu beseitigen. Es ist kein leichtes Unterfangen – erst recht, nachdem am vergangenen Donnerstag und Freitag noch einmal zwei Bergstürze mehrere Häuser zerstört haben. In Bondo, dem 200-Einwohner-Dorf, das schon vom ersten Unglück so schwer getroffen wurde, liegen Brocken so groß wie Garagen. Die Bagger müssen sie erst einmal verkleinern, damit sie abtransportiert werden können. Schon jetzt steht fest: Die Aufräumarbeiten werden Jahre dauern. Die Behörden rechnen mit bis zu vier Jahren, um den kleinen Ort wieder aufzubauen.
Und was, wenn so ein verheerender Felssturz auch 120 Kilometer weiter westlich passieren würde, am Großen Aletsch und der Moosfluh? Wie viel größer wären die Folgen im Vergleich zum Abgang am Piz Cengalo? Wie viele Menschen würde eine Katastrophe in diesem Fall treffen? Es sind Fragen, die niemand hier beantworten kann und will. Peter Schwitter, der Naturgefahren-Beobachter, lugt in die Tiefe und sagt: „Das Abbröckeln der Moosfluh ist ein Prozess, den man nicht mehr stoppen kann.“ Seit einem Jahr haben sich die Gesteinsbewegungen dramatisch beschleunigt, erklärt er.
Die Fläche der Gletscher in der Schweiz hat sich fast halbiert
Nicht nur der Große Aletsch, alle Gletscher in der Schweiz ziehen sich zurück. Seit 1850 hat sich deren Gesamtfläche nahezu halbiert – auf heute 890 Quadratkilometer. Experten wie Matthias Huss von der Eidgenössisch Technischen Hochschule Zürich sagen voraus, dass die Eismassen fast vollständig verschwinden werden. „Die Schweizer Gletscher sind nicht mehr zu retten“, bestätigt der Glaziologe. „Selbst wenn die Erderwärmung sich verlangsamt, kommt das für die Schweizer Gletscher zu spät.“ Bis Ende des Jahrhunderts würden bis zu 90 Prozent der gefrorenen Massen nicht mehr vorhanden sein.
In diesem Sommer war Huss unterwegs – hat sich einen Gletscher nach dem anderen angesehen. „2017 ist für die Gletscher ein sehr schlechtes Jahr“, sagt er. Denn der vergangene Winter brachte wenig schützenden Schnee für die Eisschichten, die Hitze von Juni bis August griff sie unaufhörlich an. Der Klimawandel, ist sich der Forscher sicher, wird das Tempo weiter beschleunigen.
Es sind düstere Prognosen. Doch die Menschen am Großen Aletschgletscher bleiben gelassen. „Wir Bergler lebten schon immer mit der Unberechenbarkeit der Natur“, sagt Eduard Imhof, der Pfarrer. „Mein Großvater erzählte uns Kindern, dass wir hier im Oberwallis auf der obersten Höllenplatte wohnen.“ Der 82-Jährige mit dem schlohweißen Haar sitzt in einem Gasthaus im Ort Mörel, unten im Tal. Draußen brennt die Sonne, das Thermometer zeigt 32 Grad Celsius. Der Geistliche gönnt sich ein Glas Bier, streift dabei durch die Jahrhunderte, erzählt von Steinschlägen, Lawinen, Feuersbrünsten und fremden Heeren, die das Tal heimsuchten. „Überlebt haben wir alles.“ Dann redet Imhof vom Aletsch, mit Ehrfurcht. „Der Gletscher bewegt sich ständig, es ist ein Kommen und Gehen, das war schon immer so“, sagt der Pfarrer, lehnt sich zurück und nippt an seinem Bier.
Was Imhof berichtet, deckt sich mit historischen Daten: Vor etwa 1000 Jahren hatte der Große Aletschgletscher einen ähnlichen Umfang wie heute. Und in der Bronzezeit, etwa um 1300 vor Christus, war er einen Kilometer kürzer als heute. Doch was heißt das schon für die Zukunft, wo der Klimawandel unaufhaltsam scheint? Die Menschen im Wallis wissen, dass sie sich den Gefahren stellen müssen. Und sie müssen versuchen, das Risiko für die Touristen in der Urlaubsregion so klein wie möglich zu halten. Mit Satellitentechnik überwachen die Behörden die Gefahrenzone an der Moosfluh. Im vergangenen Jahr sperrten sie sechs Kilometer Wanderwege, große Schilder warnen vor dem Gestein. „Bis jetzt sind noch keine Wanderer auf den abbröckelnden Gebieten tödlich verunglückt“, sagt Schwitter.
Damit die Besucher die Bergstation Moosfluh auch per Gletscherbahn ohne Gefahr erreichen können, mussten die Ingenieure sich etwas einfallen lassen. Die Lösung: Station und Stützen können verschoben werden, um sich dem rutschenden Berg anzupassen – vertikal um neun Meter, horizontal um elf Meter. „Sie müssen sich das vorstellen wie ein Schiff auf einem See bei leichter Strömung, es treibt einfach ein wenig hin und her“, sagt Valentin König, Chef der Aletsch Riederalp Bahnen, und seine großen Hände zeichnen eine leichte Wellenbewegung nach.
Nicht nur das Eis schmilzt, es fällt auch immer weniger Schnee
Vielen Folgen des Klimawandels können die Menschen am Berg aber nicht trotzen, besonders nicht dem Schneemangel. Die Hoteliers auf der Riederalp, unweit des Großen Aletsch, klagen, dass in den letzten Jahren immer weniger Schnee gefallen ist. „Die Skisaison verkürzt sich und die Zahl der Wintersportler, die hier hoch kommen, schrumpft dann auch“, sagt einer.
Um fehlende Einnahmen aus dem Wintertourismus auszugleichen, versucht man, die Touristen verstärkt mit Sommerangeboten zu locken: Man inszeniert eine bunte Erlebniswelt mit Mountainbiking und Paragliding, mit „kulinarischen Höhenflügen“ in rustikalen Bergrestaurants bis hin zum Energietanken an „magischen Kraftorten“ entlang des Großen Aletschgletschers. „Genug von der Hitze in der Stadt? Dann ab auf den Berg in die Sommerfrische“, werben die Fremdenverkehrsstrategen.
Doch wie lange die Menschen noch die einzigartige alpine Landschaft hier oben erleben können, wie lange der Große Aletschgletscher in seinem kilometerlangen Bett die Besucher fasziniert, weiß niemand. Genauso wenig, wann hier, am Gletscher, ein Bergsturz droht, der noch viel gewaltiger sein könnte als das, was die Menschen zuletzt in Graubünden erlebt haben. mit dpa