Einem wie ihm diese Frage zu stellen, ist wohl so, als wolle man vom Stadionchef des FC Bayern wissen, was denn der ganze Rummel soll um 22 Männer, die einem Ball nachrennen. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb: Ist das nicht absurd, ist es das alles wirklich wert, Mr. Merritt? John Merritt aus New York nämlich ist "Stage Manager" bei der aktuellen Europa-Tournee der Rockgruppe Bon Jovi. Das heißt, er koordiniert den Bühnenauf- und -abbau für eine der erfolgreichsten und vor allem für ihre großen Stadionkonzerte weltweit berühmtesten Interpreten im Musikgeschäft der vergangenen Jahrzehnte. Darum steht er an diesem Freitagvormittag inmitten des mächtigen, fast leeren Ovals des Münchner Olympiastadions, wo am Abend darauf ein Auftritt stattfinden wird. Und John Merritt blickt tatsächlich kurz stirnrunzelnd über die Schulter, Richtung Nordkurve, dorthin also, wo gerade ein riesiger gelber Lastenkran ein neues Teil zehn Meter in die Höhe hievt, um es in das bereits stehende Stahlgerippe einzupassen.
Bis zu 250 Beschäftigte sind tagelang im Einsatz
Am Dienstag bereits haben die Arbeiten hier begonnen, mit bis zu 250 Beschäftigten etwa einem Dutzend beteiligter Firmen, tonnenweise aus den USA eingeflogener Ausrüstung - für den dreistündigen Auftritt einer Musikgruppe. Also, Mr. Merritt? Er lächelt jetzt, hebt die Schultern und beginnt den Satz natürlich mit "you know": "You know", nämlich, "that’s the business." Und dieses Geschäft gebe eben vor, wie alles sein müsse: "Bigger and better". Und weil alles nun eben wieder größer und besser sei, als es die Fans je von Bon Jovi erlebt haben und als er es je als "Stage Manager" koordiniert habe, ist er sicher: "People will be blown away."
Konzert vor über 62 000 Zuschauern
Tatsächlich wird das Konzert am Samstagabend vor über 62 000 Zuschauern ein voller Erfolg - und der Bühne wird dabei eine besondere Ehre zuteil: ein dreiminütiger Solo-Auftritt. Die mächtige Schnauze eines klassischen US-Autos, eines 1959er Buick Electra 225, wird von rasenden Bildern auf den Videowänden so flankiert, dass im gesamten Stadion die Wirkung einer rasanten Fahrt entsteht. Und wirklich: Die Menschen sind überwältigt, sie bejubeln begeistert die Bühne selbst. Es ist das erhoffte Stimmungsspektakel.
Zahlen zeigen Größe an und zeugen von Bedeutung
Genau darin ist Pop ja bei sich selbst: als Stimmungsmedium, wo das eigene Gefühl einen äußeren Widerhall erfährt - und diesen jederzeit und auch gemeinsam erlebbar macht. So ist dem Pop auch wesentlich, dass sich in ihm Qualität an Quantität bemisst. Pop kommt schließlich von populär - und auch der einstmals rebellische Rock hat sich in diese Industrie längst als Genre eingegliedert. Zahlen zeigen hier Größe an und zeugen somit von Bedeutung. Bon Jovi etwa sind mit über 130 Millionen verkauften Alben weltweit und fünf Nummer-1-Alben in Deutschland und den USA groß - und sie gehören mit über 35 Millionen Zuschauern bei ihren bislang über 2700 Konzerten in über 30 Karriere-Jahren live zu den Größten. Und je mehr die Platteneinnahmen sinken, desto mehr Gewicht erhält das noch sehr rentable Live-Geschäft. So ist das große Pop-Geschäft darüber live immer weiter zum Überwältigungsgeschäft geworden. Es muss eben "bigger and better" sein.
2011 waren neben Bon Jovi nur U2 erfolgreicher
2010 war die Tour "The Circle" von Bon Jovi mit einem Erlös von 201 Millionen Dollar die erfolgreichste des Jahres. Mit der Fortführung 2011 spielten die US-Rocker aus New Jersey weitere 193 Millionen ein und schafften es noch mal auf Platz zwei. Erfolgreicher waren da nur U 2 gewesen mit einem Teil ihrer legendären 360-Grad-Tour. Die wiederum legendär ist, weil sie als die erfolgreichste aller Zeiten gilt (siehe Kasten) und weil sie das wohl bislang überwältigendste Bühnenspektakel aufbot: eine 52 Meter hohe Rundbühne in Form einer vierfüßigen Krake, deren Stahlfundament allein 190 Tonnen wog. Und von diesen Show-Monstern gab es gleich drei Exemplare, um den Terminplan einhalten zu können, jedes Einzelne wurde für etwa 25 Millionen Dollar hergestellt. Die Erinnerung daran bringt einen wie Olli ins Schwärmen. Der Oberpfälzer gehört beim Bon-Jovi-Aufbau in München zur "Local Crew", den zwei Dritteln der Arbeiter also, die aus der Umgebung des jeweiligen Konzertstandorts kommen. Er bezeichnet sich als "Roadie" und: "Roadies haben keine Nachnamen. Ich bin der Olli. Punkt." Wenn er von den sechs riesigen gelben Lastkränen erzählt, die beim U-2-Aufbau im Einsatz waren, staunt er heute noch. Bei Bon Jovi seien es zwar höchstens zwei, aber dennoch sei das hier "fett", sagt er. Allein der Moment, als nach den ersten Vorbereitungsarbeiten am Dienstag dann nachts um 1 Uhr die 14 mächtigen Trucks für das Stahlgerüst der Bühne durchs Marathontor ins Olympiastadion eingefahren seien: "Ein geiler Moment!" John Merritt ist erst seit Donnerstag vor Ort. Er erklärt: Dieses Grundgerüst der Bühne existiert für diese Tour viermal, um so den engen Tourplan einhalten zu können - Start war Dienstag in Sofia, dann Freitag Wien, Samstag München, Dienstag Oslo, Mittwoch Bergen, Freitag Stockholm … Im Moment hebt der Kran das nächste Teil zu den Arbeitern in die Höhe. Langsam beginnt sich eine riesige, quer verlaufende Chromleiste abzuzeichnen: die Schnauze des Buick.
Ein zweites Organisationsteam ist schon nach Oslo unterwegs
Der Produktionsaufbau mit Computertechnik und Band-Ausrüstung aber existiert nur einmal und muss meist über Nacht mit 70 Mann Begleit-Crew den Ort wechseln. So kommen in München insgesamt 48 Trucks in drei Schüben an. Und während Merritt mit seinen Mitarbeitern in München die heiße Phase koordiniert, ist ein zweites Organisations-Team bereits nach Oslo unterwegs. Ein logistisches Großunternehmen in Bewegung. Und natürlich hat der "Stage Manager" dafür Zahlen: 90 Tonnen Ausrüstung mussten mit einer Boeing 747 von den USA eingeflogen werden, die Bühne ist 40 Meter breit und 24 Meter hoch, zwölf Tonnen wiegen allein die Videowände, 800 000 Watt Leistung benötigt die Show, während derer 600 000 LEDs blinken an 790 Beleuchtungseinheiten … Da gerät der Logistiker ins Schwärmen.
Bon Jovi gaben ein dreistündiges Showspektakel
62 000 Zuschauer schwärmen dann am Tag danach, weil ihnen ihr Star, Jon Bon Jovi, in München mal wieder ein großes, dreistündiges Showerlebnis beschert - zwar ohne den beliebten, aber für diese Rock-Firma zu unsteten Richie Sambora als Gitarristen und Zweitstimme, dafür mit Rock-Evergreens wie "Livin’ on a prayer" und "It’s my life", Monsterballaden wie "Bed of roses", "Always", neueren Hits wie "Because we can" und "We weren’t born follow". Er deutet dabei sogar noch kokett ein mögliches 50-jähriges Bestehen an, indem er "I’ll sleep when I’m dead" zum Medley mit ebensolchen Jubilaren weitet: "Jumpin Jack Flash" und "Start me up" von den Rolling Stones und "Rock-in’ all over the world" von Status Quo. Und die Buick-Monster-Bühne bietet für alles den nötigen Rahmen, erhebt es zum Spektakel. Das Stadion leert sich um Viertel nach elf, Menschen kehren glücklich nach Hause zurück mit der Gewissheit, hier etwas für ihr Geld geboten bekommen zu haben. Zwischen 70 und 140 Euro. 62 000 Zuschauer. Noch Fragen nach Sinn und Rechtfertigung? Ein Reibach fürs Band-Unternehmen und den Menschen ein Wohlgefallen - Pop. Und zum Schluss, wenn alles vorbei scheint, kommt Olli wieder ins Spiel. Denn nach dem Konzert geht ja der Abbau los. Der Roadie wohnt für diese Tage mit seinem Camper direkt im Olympiapark. Sonntagnacht nämlich muss er wohl nebenan schon wieder ran, wo Pink gleich zweimal die restlos ausverkaufte Olympiahalle mit ihrer Pop-Circus-Show bespielte. Auch dort will eine große Bühne abgebaut werden.
Die Konzertsaison kommt gerade erst richtig ins Rollen
Und die nächsten Großproduktionen steigen gleich im Anschluss. Am Mittwoch tritt Beyoncé in der Olympiahalle auf, am Sonntag Bruce Springsteen im Olympiastadion. Die Konzertsaison kommt gerade erst so richtig ins Rollen. Olli schwärmt eigentlich für keinen dieser Musiker, will von Pop nichts hören, mag Metallica und Pearl Jam, findet, das wahre Live-Erlebnis müsse die Musik sein. Und dafür brauche es kein Show-Spektakel: "Guter Sound, schwarzer Vorhang dahinter, fertig." Aber: "Dieses Leben, dieser Job - dafür musst du selber Rock ’n’ Roll sein, Rock ’n’ Roll leben." Sagt’s und steigt in den Gabelstapler mit der Nummer 6 und fährt davon. Pop ist das jedenfalls nicht.