Man sieht sie fast nicht, aber sie sind da, irgendwo unter der Erde. Sie stecken in einem der Tunnel und Löcher, in einer der Gruben und Röhren. Allein in Stuttgart sind es rund 4000 Ingenieure, Stahlbauer, Handwerker, Tunnelbauer und Mineure, die derzeit am Bahnprojekt Stuttgart 21 arbeiten. In Zwölf-Stunden-Schichten, zehn Tage Dienst, fünf Tage Urlaub. Viele Österreicher haben hier angeheuert, ganze Dorfgemeinschaften, wo die Männer seit Generationen Tunnelbauer sind. 59 Kilometer Tunnel haben sie im Bereich Stuttgart an elf Tunnel-Großbaustellen zu bauen, 34 Kilometer sind geschafft. Auch von den knapp 62 Tunnelkilometern der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm, sind knapp 39 gegraben, zum Teil in schwierigstem Gestein.
In den Tunneln verschwimmen Tag und Nacht ebenso wie die Jahreszeiten. Für die Männer heißt es: Sicherheitsstiefel an, Warnweste um, Gehörschutz in die Ohren, Staubmaske vor den Mund und runter in die Schlammlöcher, kilometerweit rein in die Röhren, auf die Maschinen, an die Bagger und Bohrer. Für manche der Arbeiter ist die Baustelle zwischen Stuttgart und Ulm ein Traum. „Das ist das mit Abstand beste Projekt, an dem man als Bauingenieur derzeit weltweit arbeiten kann“, sagt einer. Auch Michael Pradel, 44, technischer Bauabschnittsleiter für den künftigen Durchgangsbahnhof in Stuttgart, kann die Begeisterung kaum zurückhalten. Darüber, was hier an Technik alles möglich ist. Manches, was hier umgesetzt wird, wurde so noch nie gebaut.
Die alte Bahndirektion haben die Bauarbeiter auf Pfähle gestellt
Natürlich gehören zu Stuttgart 21 auch die noch immer anhaltenden Proteste, die politischen Diskussionen, der Streit um die Milliardensummen, die das umstrittenste Bahnprojekt des Landes seit Jahren verschlingt. Für die Ingenieure aber spielt all das keine Rolle. Sie lieben ihren Job. Und diese völlig verrückten Dinge, die sie hier umsetzen können. Da ist zum Beispiel die Sache mit der alten Bahndirektion. Ein achtstöckiger Bau, 15.000 Tonnen schwer, mitten in Stuttgart, gegenüber des alten Kopfbahnhofs. Teile des Treppenhauses und der Fassade sind denkmalgeschützt. Aber der einzige Weg aus dem Innenstadtkessel für die neue Bahntrasse geht direkt unter dem Gebäude durch. Also haben die Ingenieure das Fundament gepfählt, das Gebäude auf eine 1,3 Meter dicke Betonplatte gesetzt und diese auf hydraulische Pfahlstelzen. Zwischen diesen Stelzen fahren nun die Lastwagen umher und werden die Tunnelröhren in den dahinterliegenden Berg gebaut. Seismische Technik misst jede minimale Erschütterung des Gebäudes, jede drohende Senkung. „Mit einem Joystick können wir das ganze Gebäude im Millimeterbereich ausrichten“, sagt Pradel und strahlt dabei vor Freude. Manchmal, wenn er erzählt, klingt es, als würde er Lego spielen.
An der anderen Seite von Pradels Bauabschnitt kann man sich in einer Zehn-Meter-Grube schon mal an die fertige Bahnsteigkante des neuen Bahnhofs stellen. Nur, dass noch keine Züge vorbeikommen, sondern Laster die Rampe hochfahren. Fünf Millionen Tonnen Aushub wurden schon aus der Stadt geschafft, rund 5000 Güterzüge voll. In der Baugrube wachsen gerade die ersten der 28 markanten Kelchstützen samt Verschalungen in die Höhe, die später das Dach des Tiefbahnhofs tragen müssen. Weil die Kelchstützen nach Architektenvorgaben weiß sein sollen, werden ein spezieller Zement und Sand für den Beton verwendet, aus Brandschutzgründen werden Polypropylenfasern in den Beton gemischt, um ihn hitzebeständiger zu machen.
Dort unten gibt es ein eigenes Mobilfunknetz
Das Herz von Stuttgart 21 aber schlägt unter der Erde – dort, wo die Tunnel gegraben werden. Es ist eine unwirkliche Welt, die sich dem Besucher bietet: Nackte Erde hier, dort mannshohe Schläuche, die Staub absaugen und Röhren, die Frischluft zuführen, dazwischen Materialberge, Matsch und Pfützen. Und überall auf dem Beton bunte Markierungen mit Zahlenkolonnen – Mess-, Bohr- und Zugangspunkte.
In manchen Abschnitten herrscht über Kilometer Grabesstille; wo die riesigen Bohr-, Grab- und Vortriebsmaschinen laufen, ist das Dröhnen ohne Ohrenschutz nicht zu ertragen. Immer wieder tauchen im diffusen Licht der Tunnelröhren Trupps von Arbeitern auf und verschwinden wieder. Damit sie geortet werden können, gibt es hier unten ein eigenes Mobilfunknetz.
An der unterirdischen Front des S-Bahn-Tunnels Richtung Bad Cannstatt zeigt sich, wie mühsam diese Arbeit ist. „Jumbo“, die überdimensionale Bohrmaschine, in deren Leitstand der Maschinenführer wirkt wie ein Playmobil-Männchen, treibt Eisenstangen durch eine Spritzbetonwand. Sie sollen das Gestein vor dem Einsturz bewahren. Danach wird der Tunnel mit Stahl verstärkt und die Betonwand eingerissen. 80 Zentimeter vorwärts schaffen es die Arbeiter so im besten Fall. Dann geht das Ganze von vorne los. Hier hat Bernd Fischer das Sagen. Der 57-Jährige hat vom Himalaya bis nach Kanada schon überall auf der Welt Tunnel gebaut. Seit einem Jahr ist er in Stuttgart. Diesen Bau hält der Ingenieur für das „geilste Projekt“, an dem ein Tunnelbauer derzeit weltweit arbeiten kann. Juchtenkäfer? Dazu will Fischer nichts sagen. Er will einfach Tunnel bauen.
Der Juchtenkäfer hat das Projekt um 20 Millionen Euro verteuert
Ja, der Juchtenkäfer, er hat der Bahn so einige Probleme bereitet. Denn genau dort, wo die Bahntrasse eigentlich wieder oberirdisch laufen könnte, stehen zwei Juchtenkäferbäume und vier Juchtenkäferverdachtsbäume. „Wenn ein Bauleiter die fällen lässt, macht er sich strafbar“, sagt Jörg Hamann, Sprecher des Bahnprojekts. Deswegen wird nun ein weiterer Tunnel unter den Bäumen gegraben. Planänderungsverfahren, zwei Wurzelgutachten, Genehmigungsverfahren. Zeitverlust: ein knappes Jahr. Zusatzkosten laut Bahn: rund 20 Millionen Euro.
Ein Stück weiter Richtung Neckarbrücke hängt der Fortschritt von Stuttgart 21 an der EU. Hier stehen sechs Bäume, auf denen der Juchtenkäfer vermutet wird. Die EU muss zustimmen, damit das Eisenbahn-Bundesamt die Fällung der Bäume genehmigt. Geschieht das nicht bis Anfang Februar, verzögert sich das Projekt um mindestens ein halbes Jahr, denn die Bäume dürfen nur während der vegetationsarmen Zeit gefällt werden. Seit August 2015 läuft das Verfahren.
Lassowerfer rückten aus, um die Zauneidechsen zu fangen
Was in Stuttgart die Juchtenkäfer, sind auf der Schwäbischen Alb die Zauneidechsen. 2015 war in einem Bauabschnitt festgestellt worden, dass sich deren Zahl dort deutlich erhöht. Für jede einzelne der neu gefundenen Zauneidechsen musste ein neuer Lebensraum gefunden werden. In der Nähe von Wendlingen mussten rund 250 Tiere gefangen werden – durch eigens ausgebildete Lassowerfer – rund um Stuttgart sind es tausende. Allein die Umsiedlung der Reptilien kostet die Bahn Millionen.
Auch die Anbindung der Neubaustrecke an den Hauptbahnhof in Ulm ist so eine Sache. Dort brauchen die Bauarbeiter Taucherhelm und Neoprenanzug, gewerkelt wird unter Wasser, weil die Baustelle unterhalb des Grundwasserspiegels liegt. Vor wenigen Tagen haben Spezialisten im bis zu 1,30 Meter tiefen, sechs Grad kalten Wasser eine Bodenplatte betoniert. Sie trägt später den Trog, in dem die Hochgeschwindigkeitszüge zum Ulmer Hauptbahnhof gelangen. Das Wasser ist so trüb, dass die Taucher nur tastend arbeiten können. Unterstützt werden sie von Ingenieuren, die ihnen mithilfe lasergesteuerter Messgeräte den Weg weisen.
Seit acht Jahren wird auf der Bahnstrecke zwischen Stuttgart und Ulm gebaut. 2021 sollte das Projekt ursprünglich fertig sein und 4,5 Milliarden Euro kosten. Vorgaben, die längst Geschichte sind. Wie viele Milliarden es am Ende werden, wagt niemand vorherzusagen, derzeit liegen die Schätzungen bei 6,5 Milliarden Euro. Und vieles deutet darauf hin, dass es auch mit der 2021 geplanten Eröffnung des neuen Stuttgarter Hauptbahnhofs nichts wird. Auch, wenn sich die Ingenieure und Tunnelbauer mächtig ins Zeug legen. Für sie bleibt das umstrittenste Bahnprojekt Deutschlands vor allem die spannendste Baustelle im Land – Artenschutz hin oder her. Im Containerdorf am Stuttgarter Nordbahnhof, wo viele Tunnelbauer wohnen, hängt zwischen den Dienstplänen eine Fotomontage einer Stuttgart-21-Baugrube. Am Grund sitzt ein riesiger Alligator. Ganz unbehelligt.