An diesem Tag trägt sie eine dicke Brille und halblanges Haar. Um sie herum schleichen zwei Katzen. Sie sagt: „Ich bin optimistisch, aber ich habe Angst. Jedes Mal habe ich geglaubt, ich würde freigesprochen …“ Sie ist noch immer sehr hübsch. Auch deshalb haben die Medien sie irgendwann „Engel mit den Eisaugen“ genannt.
Es ist das letzte Interview vor dem Urteil, das für heute, spätestens morgen erwartet wird. Amanda Knox, 26, führt es mit der römischen Zeitung La Repubblica. Sie führt es mithilfe von Skype, der Videotelefonie im Internet. Der Journalist sitzt in Rom, sie in ihrer Heimatstadt Seattle in den USA.
Und das hat seinen Grund. Es geht um Mord. Zum vierten Mal schon. Um Mord an der britischen Studentin Meredith Kercher. Mit durchschnittener Kehle, missbraucht und kaum bekleidet wird die damals 21-Jährige am 2. November 2007 in ihrem WG-Zimmer im mittelitalienischen Perugia gefunden. Überall ist Blut.
Sind ihre Mitbewohnerin Amanda und deren damaliger italienischer Freund Raffaele Sollecito, 29, für die Tat verantwortlich? Seit Jahren beschäftigt diese Frage nicht nur Gerichte, sondern auch die breite Öffentlichkeit in Großbritannien, Italien und den USA. „Ich war vier Jahre im Gefängnis in Italien und habe nichts Böses getan“, sagt Amanda Knox im Interview. Was passiert, wenn sie wieder verurteilt wird? Sie sagt: „Ja, dann werde ich flüchten.“
Knox: „Ich habe Angst, für eine Sache verurteilt zu werden, die ich nicht getan habe.“
2009 werden sie und Sollecito zu 26 beziehungsweise 25 Jahren Haft verurteilt. 2011 spricht ein Berufungsgericht sie wieder frei. Zwei Tage später fliegt Amanda Knox in die USA zurück – und lässt sich seitdem nicht mehr in Italien blicken. Dann kommt der Tag, als der römische Kassationshof den Freispruch aufhebt und anordnet, das
. Jetzt heißt die Frage wieder: schuldig oder nicht schuldig? Staatsanwalt Alessandro Crini ist der festen Überzeugung: schuldig. Er fordert 30 Jahre Haft für Amanda Knox, 26 für Raffaele Sollecito.Heute also das Urteil. Mit unzähligen Journalisten und Schaulustigen, mit den Geschwistern der ermordeten Meredith Kercher aus London. Aber ohne die Angeklagte Amanda Knox. Raffaele Sollecito, der sich während der Verhandlung wenigstens mehrere Male blicken ließ, könnte nach jüngsten Meldungen anwesend sein. Zunächst hat es geheißen, er werde dem „Tag der neuen Wahrheit“ lieber in seiner apulischen Heimat entgegenblicken.
Er soll übrigens, so heißt es in italienischen Medien, im vergangenen Jahr vergeblich versucht haben, durch die Hochzeit mit einer Amerikanerin US-Bürger zu werden. Selbst Amanda Knox soll er gefragt haben. Das hätte ihm die Chance eingeräumt, im Fall einer erneuten Verurteilung womöglich dem Haftantritt zu entkommen. Denn theoretisch können die USA laut Gesetzgebung im Ausland verurteilte Bürger zwar ausliefern. Doch in der Praxis passiert das fast nie. Und schon gar nicht mit gebürtigen Amerikanern wie Amanda Knox.
„Ich habe Angst, für eine Sache verurteilt zu werden, die ich nicht getan habe.“ Das hat Amanda Knox schon vor dem Urteil im ersten Prozess in Perugia gesagt. Heute sieht sie das nicht anders. Der „Engel mit den Eisaugen“... Innig hat sie vor laufenden Kameras Raffaele Sollecito geküsst, wenige Tage nach Aufdeckung des Mordes und kurz vor der Festnahme. Die Szene ging um die Welt.
Ein Fest mit Haschisch und Sexspielen
Die Frage aller Fragen ist geblieben: Wie kam es zur Ermordung von Meredith Kercher? Dazu gibt es verschiedene Versionen, und nicht nur das macht die Sache so kompliziert. Da ist die Version der Staatsanwaltschaft im ersten Prozess. Demnach feiern die Studenten 2007 in der Wohngemeinschaft ein Fest mit Haschisch und Sexspielen. Weil Meredith Kercher, Austauschstudentin und Tochter eines britischen Journalisten, bei dem Treiben ihrer Zimmernachbarin nicht mitmachen will, wird sie mit Messerstichen umgebracht – behauptet die Staatsanwaltschaft.
In ersten Aussagen gibt Amanda Knox auch zu, zur Tatzeit daheim gewesen zu sein. Doch später sagt sie ebenso wie ihr Freund aus, beide hätten in dessen Wohnung Filme angeschaut. Nur: Wer war es dann? Knox beschuldigt damals zunächst den Kongolesen Patrick Lumumba der Tat. Doch der hat ein sicheres Alibi und muss nach einigen Wochen aus der Untersuchungshaft entlassen werden. Für diese Lüge erhält Amanda Knox eine zusätzliche Haftstrafe.
Ein anderer Afrikaner ist an jenem Tag aber wirklich in der WG zu Besuch: Rudy Hermann Guede, 27, geboren in der Elfenbeinküste. Er ist von einer Familie in Perugia großgezogen worden. Nach abenteuerlicher Flucht durch Deutschland fasst ihn die Polizei im November 2007 in Mainz. Er ist der bisher einzige Angeklagte, der wegen Beihilfe zum Mord rechtskräftig verurteilt ist. Zunächst zu 30 Jahren Gefängnis; eine Strafe, die später um 14 Jahre reduziert wird. Aber auch Guede legt nie ein volles Geständnis ab. Gentests zufolge hat Rudy eindeutig versucht, Meredith Kercher zu vergewaltigen.
Eine Tatrekonstruktion im ersten Prozess ergibt Folgendes: Kercher schreit und wehrt sich heftig. Amanda Knox und Raffaele Sollecito, beide unter Alkohol- und Drogeneinfluss, eilen Guede zu Hilfe. Was sie sehen, empfinden sie als „sexuell aufregende Situation“. So schildert es der Staatsanwalt.
Der Arzt zählt 47 Einstiche
Und weiter: Erst bedrohen sie Kercher mit dem Messer. Doch weil diese sich so verzweifelt wehrt, fangen sie an, auf sie einzustechen. Am Ende zählt der Arzt 47 Einstiche; verantwortlich dafür angeblich Amanda Knox mit einem Küchenmesser und Raffaele Sollecito mit einem Taschenmesser. Die Britin stirbt nach langem Todeskampf.
Ist es so gewesen? In Wirklichkeit, so behaupten damals wie heute Knox’ Verteidiger, sei Amanda ein ganz „unbedarftes Mädchen“. Sie hat in dieser Zeit „ein großes Chaos im Kopf“, nachdem sie in den ersten Tagen nach der Festnahme Stunden um Stunden verhört worden ist. „Über Amanda ist ein Tsunami gerollt“, sagt Verteidiger Carlo dalla Vedova. Die Anklage gebe ständig wechselnde Motive für den Mord an und sei deshalb unglaubwürdig, sagt derselbe Anwalt im jetzigen Prozess.
Tatsächlich wird zwischenzeitlich argumentiert, es habe gar keine Sexspiele gegeben. Eigentliches Tatmotiv sei ein Streit zwischen den beiden WG-Bewohnerinnen gewesen. Möglicherweise, weil Guede einmal die Toilettenspülung nicht betätigt habe. „Meredith und ich waren Freundinnen und haben uns nie gestritten“, meldet sich dazu Amanda Knox aus Amerika. Raffaele Sollecito wiederum beteuert in Florenz unter Tränen seine Unschuld. Seine Verteidiger beharren auf dem Alibi mit dem Filmabend.
Dann gibt es aber auch noch die Position der Familie Kercher. Die beiden Angeklagten hätten ein „hohes kriminelles Potenzial“ und Meredith im Alkohol- und Drogenrausch ermordet. Dabei bleiben deren Verteidiger auch in Florenz. „Wir haben keine Zweifel an der Schuld der Angeklagten“, sagt Anwalt Francesco Maresca. Er kritisiert auch Amanda Knox’ Verhalten nach ihrer Rückkehr in die USA: „Sie hat Millionenverträge für ihr Buch unterschrieben und einen eigenen PR-Berater.“
In Amerika glaubt man den Unschuldsbeteuerungen von Knox
Tatsächlich gibt es vor allem in den USA noch heute einen enormen Medienrummel um den Perugia-Mord vor über sechs Jahren. Auch ein Film ist gedreht worden. In Amerika glaubt man den Unschuldsbeteuerungen von Amanda Knox und kritisiert vor allem die italienische Justiz. Das Gericht handle unzulänglich und mache sich einfach lächerlich, sollte es den hohen Strafforderungen der Staatsanwaltschaft folgen, heißt es dort. Die Urteilsverkündung aus dem Gerichtssaal soll live in Amandas Heimatstadt Seattle übertragen werden.
Da sich keiner der Beteiligten schuldig bekannt hat, ist auch das jetzige Verfahren nur ein Indizienprozess. Schon im ersten Verfahren wurde schnell klar, dass auf dünnem Eis argumentiert wird und die Ermittlungsbehörden womöglich schludrig gearbeitet haben. Es gibt widersprüchliche Aussagen von Zeugen, keine letztendliche Gewissheit, was die Gentests betrifft und unklare Alibis. Immer wieder geht es um DNA-Spuren auf einem Küchenmesser und am BH-Verschluss des Mordopfers.
In Florenz ist ein erneutes Gutachten für ein Messer angeordnet worden, das in Sollecitos Wohnung gefunden worden war. Ergebnis: Die Abdrücke stammen von Amanda Knox. Staatsanwalt Crini untermauert damit seine Schuldthese. Die Verteidigung argumentiert, das Messer sei nicht eine der Tatwaffen gewesen. Amanda und Raffaele hätten es lediglich zum Kochen benutzt. Ein Taschenmesser, das beim Mord benutzt worden sein soll, ist nie gefunden worden.
Wie wird das vierte Gericht im Fall Kercher nun all das bewerten? So verwirrend die bisherigen Fakten sind, so entscheidend sind sie auch für das Urteil. Egal, wie es ausfällt – ein fünfter Prozess, wieder vor dem Kassationshof, gilt als ziemlich sicher. Wieder geht es dann um die ewige Frage: schuldig oder nicht schuldig?