Mancher im Westen reibt sich verwundert die Augen: Kaum haben sich Tunesien, Ägypten und Libyen vom Joch ihrer Diktatoren befreit, scheint Nordafrika vor einer Renaissance des Islam zu stehen. In Libyen soll das Recht der Scharia gelten, in Tunesien wird wohl eine islamische Partei die Wahl zur verfassunggebenden Versammlung gewinnen, und in Ägypten ist ohnehin die Moslembruderschaft die am besten organisierte politische Kraft. Haben dafür die jungen Leute demonstriert, hat dafür die Nato die Rebellen in Libyen unterstützt? Endet der arabische Frühling in einer antiwestlichen Eiszeit?
Das momentane Erstaunen im Westen resultiert teilweise aus Ignoranz und Missverständnissen. Im Schwange der Begeisterung über den Aufbruch in Nordafrika wurde übersehen, dass diese Länder bisher bereits vom Islam geprägt waren, eher trotz als wegen der Diktaturen. Wenn sich Menschen via Facebook zu politischen Demonstrationen verabreden, heißt dies noch lange nicht, dass sie sich von ihrer Religion losgesagt haben. Viele junge Leute orientieren sich zwar zunehmend am Westen, aber eigentlich nur in den Großstädten.
Islam heißt jedoch nicht Islamismus. Nur diese fundamentalistische und gewaltbereite Strömung, die von der Mehrheit der Muslime abgelehnt wird, ist eine Gefahr für den Westen – und für die Freiheit, die sich die Demonstranten im arabischen Frühling erkämpfen wollten. Doch in Tunesien beruft sich die islamische Ennahdha-Partei auf das Vorbild der erfolgreichen türkischen Regierungspartei AKP. Und in Libyen ist längst nicht ausgemacht, dass die Scharia so rigoros ausgelegt wird wie in Saudi-Arabien. Der arabische Frühling hat noch alle Chancen. Eine 1:1-Kopie unseres Systems würde im Übrigen gar nicht nach Nordafrika passen.