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Der Taktiker Erdogan

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Der Taktiker Erdogan

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    Winfried Züfle
    Winfried Züfle Foto: Wagner

    Wenn es in der Türkei einen mit allen Wassern gewaschenen Politiker gibt, dann ist das Recep Tayyip Erdogan. Der Vorschlag des Ministerpräsidenten und Chefs der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP, den Konflikt um den Gezi-Park in Istanbul mit einer Volksabstimmung zu lösen, entspringt daher nicht seiner lupenreinen demokratischen Gesinnung. Er ist vielmehr taktisch begründet. Denn Erdogan kann sich gute Chancen ausrechnen, im Falle eines Plebiszits eine satte Mehrheit für sein Projekt zu erhalten und damit den Demonstranten die Legitimation für ihren Widerstand zu entziehen.

    Der raffinierte Zug bringt die neue außerparlamentarische Opposition in die Zwickmühle. Lehnt sie ein Plebiszit ab, sieht es so aus, als habe sie Angst vor dem Urteil des Volkes, das in der Demokratie die höchste Instanz ist. Sagt sie Ja, riskiert sie nicht nur eine Niederlage in einer für die Stadtentwicklung Istanbuls wichtigen Sachfrage, sondern auch eine Schwächung ihres Kampfes gegen die zunehmend autoritären Züge im Regierungshandeln Erdogans.

    Die Kraftprobe findet zunächst aber nicht an der Wahlurne, sondern auf der Straße statt. Erdogan ist gewillt, den von den Demonstranten beschlagnahmten öffentlichen Raum wieder zurückzuerobern. Und zwar mit Polizeigewalt. Ihm ist zugutezuhalten, dass auch in keinem westlichen Land Platzbesetzungen von Demonstranten unbegrenzt hingenommen werden. Und dass bei solchen Aktionen die Ordnungskräfte nie gut aussehen (siehe Startbahn West, Wackersdorf, Gorleben oder Stuttgart).

    Übertriebene Härte und Brutalität müssen aber vermieden und, wo sie dennoch vorkommen, geahndet werden. Bei der Räumung des Taksim-Platzes in Istanbul hat die türkische Polizei offensichtlich in unverhältnismäßigem Ausmaß Gewalt eingesetzt. Es muss jetzt offiziell untersucht werden, ob dies von oben befohlen war oder ob es sich um Fehlverhalten einzelner Beamter handelte. Wenn die Türkei ihren Ruf als Demokratie nicht gefährden will, müssen auch Konsequenzen gezogen werden. Dennoch sollten europäische und amerikanische Politiker, die jetzt glauben, Ankara belehren zu müssen, den Mund nicht allzu voll nehmen. Im Ruf, barmherzige Freunde aller Demonstranten zu sein, stehen auch die Ordnungskräfte westlicher Länder nicht.

    Erdogan versucht derzeit mit einer Doppelstrategie zu punkten. Mit handverlesenen Gegnern führt er Gespräche, die anderen werden von der Straße vertrieben.

    Damit wird er aber die Kräfte des Aufbegehrens nicht besiegen können, im Gegenteil: Aus den Massendemonstrationen heraus, die von Istanbul auch längst auf viele andere Großstädte übergesprungen sind, wird sich ein harter Kern des Widerstands bilden, der nicht nachlassen wird, dem selbstherrlichen Regierungschef auch in Zukunft in die Parade zu fahren.

    Auf der anderen Seite wird Erdogan aber bei der Mehrheit der Türken als Recht-und-Ordnung-Politiker gut ankommen. Nach der Räumung des Taksim-Platzes wird er auch den kleinen Gezi-Park nicht in der Hand eines bunten Völkchens lassen, das viele an die Zeit um 1968 erinnert. Erdogan, der bisher gerne die islamische Karte gespielt hat, kann damit seine Verankerung auch in nichtreligiösen konservativen Bevölkerungskreisen vertiefen. So hätte der gewiefte Taktiker aus der Krise sogar noch Honig gesogen.

    Ist Erdogan damit bereits auf dem Weg zum neuen Sultan, zu einem absolutistischen Herrscher am Bosporus? Noch lange nicht! Aber damit es so bleibt, braucht das Land eine starke Opposition.

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