Man konnte dem Mann nicht auskommen, über 50 Jahre war ein Leben ohne Udo Jürgens nicht vorstellbar. Wer in die Wirtschaftswunderjahre hineingeboren wurde, für den gehört der Sänger und Entertainer zum Soundtrack seines Lebens – auch seiner sinnlich-frohen Seiten. Für den Unterhalter Hape Kerkeling schrieb der Österreicher gar „die Chronik der Bundesrepublik“.
Bestimmt erinnert sich ein jeder daran, wann er zum ersten Mal ein Lied von Udo Jürgens gehört hat. Im konkreten Fall war es so um 1963 herum seine Fassung eines Elvis-Presley-Hits: „Kiss Me Quick“ hieß er auch auf Deutsch und traf den Nerv des pubertierenden Jünglings, der das mit dem Küssen auch mal ausprobieren wollte.
Sinnfällig ging es weiter mit „Siebzehn Jahr, blondes Haar, so stand sie vor mir“ – wie wahr – bis hin zu „Sag ihr, ich lass sie grüßen“, wenn es dann vorbei war. Als dann später zu zweit ein „ehrenwertes Haus“ bezogen wurde, informierte die Nachbarin das ganze Viertel, dass „das merkwürdige Studentenpaar einen kanariengelben Wohnzimmerschrank“ sein Eigen nenne.
Udo Jürgens will von Ruhestand nichts wissen
Eines aber muss sich Udo Jürgens noch heute vorwerfen lassen: Er hat unser erstes Ferienvergnügen in Griechenland um ein Haar ruiniert, weil wir den „griechischen Wein“ nicht aus dem Ohr bekamen, samt der wegweisenden Feststellung: „Da saßen Männer mit braunen Augen und mit schwarzem Haar ...“. So war das: Den Komponisten für geniale Melodien ließen seine Texter mitunter in Klischeefallen tappen. Als ob man von Griechen erwarten würde, dass sie blonde Haare haben und blaue Augen.
Heute wird der Wegbegleiter unseres Lebens 80 Jahre alt. 66-Jährige vor allem werden dem Musiker alles Gute wünschen, weil er der lebende Beweis dafür ist, dass in dem Alter der Spaßvorrat noch lange nicht aufgebraucht ist. Zumal der in der Schweiz lebende gebürtige Klagenfurter vom Ruhestand nichts wissen will. „Mitten im Leben“ heißt sein jüngstes Album – interpretiert mit einem gewissen Augenzwinkern und der Koketterie eines alten Charmeurs. Am 18. Oktober feiert das ZDF den Künstler, dem die Branche ihre Aufwartung macht. Unter anderem wird Helene Fischer den Kultsong „Merci, Cherie“ mit Udo im Duett singen. Und wie immer wird er seine Partnerin gut aussehen lassen.
Udo Jürgens liebt Herausforderungen. Und trotz altersbedingter Wehwehchen ist die Bühnenluft Sauerstoff für den Grandseigneur, ist der Applaus sein Motor. Ab 24. Oktober geht er wieder auf Tournee. Denn trotz der mehr als 1000 Songs und mehr als 100 Millionen verkaufter Tonträger demonstriert er auf der Bühne eine Professionalität, wie sie im deutschsprachigen Raum einmalig ist. Der Franzose Gilbert Bécaud, sagt er gern, sei eines seiner Vorbilder gewesen, der „Monsieur 100 000 Volt“.
Er gibt den Mann am Klavier
Die Spannung, die Jürgens live aufbaut, ist vergleichbar elektrisierend. Die Symbiose von Mann und Piano, die erotischen Schwingungen, die sich aus dieser Partnerschaft ergeben, kennt man ansonsten nur von Rock-Gitarristen, die ihr Instrument als sexuelle Stimulanz einsetzen.
Udo Jürgens erinnert sich an seine Anfänge: „Der riesige schwarze Kasten, aus dem man über die Tasten Leben, Liebe, Lust und Leidenschaft herauszaubern konnte, der Traum vom Broadway, von Hollywood ... dazu die wunderschönen Frauen, die einen auf der Kinoleinwand für wenige Schillinge in Traumwelten entführten.“
Frank Sinatra war für den jungen Burschen, der anfangs mit einer Tanzcombo durch die Kärntner Dörfer gezogen war, der große, unerreichbare Zampano. Die Art, wie der die Töne auf verschiedenen Längen und in verschiedenen Lagen über dem Orchester halten konnte, beeinflusste den als Udo Jürgen Bockelmann geborenen Jungspund nachhaltig.
Ausgerechnet der amerikanische König des Entertainment sorgte dafür, dass der Soundtrack des Lebens seinen ersten Riss bekam. Denn beim ersten Anflug 1996 auf „die Stadt, die niemals schläft“, erwies sich der Jürgens-Ohrwurm „Ich war noch niemals in New York“ als Dünnbrettbohrer. Da saß im Ohr der Frank, der den Big Apple mit seinen „Vagabond Shoes“ schon lange erobert hatte.
Aber die Rolle eines zwischen Tag und Traum an Laternenmasten whiskeytrunken philosophierenden Sinatra konnte und wollte Jürgens ohnehin nicht ausfüllen.
Dann schon lieber der Mann am Klavier sein. Aus dem „schwarzen Kasten“ ist längst ein Plexiglas-Flügel geworden, auf dem die Damen schon vor dem Auftritt ihres Schwarms Blumensträuße niederlegen. Ob sie erobert werden wollten oder nicht – dem Bühnenwolf fielen viele Geißlein zum Opfer. Immer, immer wieder ging in Tourneestädten die Sonne auf. Und immer, immer wieder fand sich am Bühnenausgang etwas ein, das nach „Siebzehn Jahr, blondes Haar“ aussah. Und Gaby wartete im Park.
Im Rückblick sagt der Sänger: „Ich habe zu viel oberflächlich geliebt. Treu bin ich nicht gewesen. Treue ist keine Frage des Charakters, sondern eine Frage der Gelegenheiten.“
Der Bademantel wird noch gebraucht
Die dicken Schlagzeilen machte der Publikumsliebling weniger mit seinem Privatleben als mit seinen Liedern. Der Hitparadenstürmer rutschte 1970 mit „Lieb Vaterland“ auf dem spiegelblanken Parkett der Staatsmoral aus.
Was war passiert? Udo Jürgens sang: „Lieb Vaterland, wofür soll ich dir danken? Für die Versicherungspaläste und die Banken?“ Dann kamen „die Kasernen, die teure Wehr, wo tausend Schulen fehlten, tausend Lehrer und noch mehr?“. Beifall der Studenten, Rüffel von konservativen Leitartiklern.
Gemäß seinem Motto „Unterhaltung ist für mich ohne Haltung nicht möglich“ löste der Moralist am Klavier 1988 eine Kontroverse mit dem Song „Gehet hin und vermehret euch“ aus. Eilfertige Rundfunkräte sahen in dem Song einen Angriff auf die Haltung des Vatikan zur Empfängnisverhütung und belegten den Hit mit einem Sendeverbot.
Doch gerade diese Mischung aus ernst gemeintem Anspruch, starken Melodien („Merci, Chérie“), Schlagerseligkeit („Es wird Nacht, Señorita“) und clever kalkulierter ShowAttitüde macht einen Großteil seines Erfolgs aus.
„Alle Ideen bekomme ich aus dem alltäglichen Leben“, sagt Jürgens. Ideen, für die er die Menschen gewissermaßen „ausgesaugt“ habe. Und diese gibt er den Menschen mit seiner Musik zurück. Das Verhältnis Künstler – Verehrer kann diesen Worten zufolge einfacher gar nicht sein.
Und der persönliche Film, den man selbst sich zurechtgedreht hat in seinen Gedanken, verlangt noch lange nicht nach dem Vorhang. Solange der Soundtrack des Lebens läuft mit Songs wie „Mein Ziel“ und Sätzen wie „Versuch, dreimal täglich Kolumbus zu sein. Es gibt noch so viel zu entdecken“, braucht einem nicht bange zu sein um den alten Mann und das Lied.
Manchmal hält Udo Jürgens Zwiesprache mit sich. Auch wenn noch nicht Schluss ist und er auf der Tournee wieder im weißen Bademantel seine Auftritte beenden wird („meine Marotte“) – sein Freundeskreis wird aus biologischen Gründen immer kleiner. Das stimmt ihn nachdenklich, auch wenn er den Tod nicht als schreckliches Ereignis fürchtet.
In einem Interview mit dem ZDF sprach dieser Tage der bekennende Atheist bei Sonnenschein hoch über dem Zürichsee von dem, was ihn nach seinem Tod erwarte: „Stille, unendliche Ruhe und Dunkelheit“ – und ein „Bewusstsein, das in allem, in jedem Gegenstand, in jedem Menschen aufgeht.“ Und schrieb unter eine schnell angefertigte Zeichnung: „Merci und basta!“
Denn eines hat er sich fest vorgenommen: „Es wird nie so weit kommen, dass man mich auf die Bühne tragen muss.“
Seine letzte Zugabe jedenfalls hat Udo Jürgens noch lange nicht gegeben. Der Bademantel wird noch gebraucht.