Gino Chiellino ist in Kalabrien aufgewachsen, und er lebt - als Literaturwissenschaftler an der Universität, als Lyriker, Essayist und Übersetzer - seit über 30 Jahren in Augsburg.
So verkörpert der 64-Jährige gewissermaßen in seiner Person das Thema der diesjährigen Landesausstellung "Bayern - Italien". Besonders den Ausstellungsteil im Augsburger Textilmuseum hat er sich mit Interesse angesehen, weil die dort dargestellte Zeitgeschichte viel mit seinem Leben als Emigrant zu tun hat.
Bayern und Italien, das ist die Geschichte einer großen Liebesbeziehung, sagen die Macher der Landesausstellung. Haben Sie diese Liebe gesehen?
Chiellino: Vor allem habe ich diese starke Sehnsucht der Deutschen nach Italien gefunden, zum Beispiel in der Landkarte, die die Ausdehnung Bayerns unter Napoleon bis zum Gardasee zeigt. Das ist der Traum einer geografischen Kontinuität. Ich habe mich immer gefragt, warum so viele deutsche Städte - Augsburg, München, Regensburg, sogar Unna im Ruhrgebiet - sich als "nördlichste Stadt Italiens" bezeichnen. Das hat weniger mit der Erscheinung der Stadt als mit der Sehnsucht zu tun.
Also eine einseitige Liebe?
Chiellino: Na, vielleicht doch nicht. Es ist ja merkwürdig, dass Italiener und Deutsche sich 1945, nach der misslungenen Allianz ihrer beiden Diktatoren, als Feinde getrennt haben, um sich dann schon ab den frühen fünfziger Jahren gegenseitig friedlich zu besuchen. Die Gastarbeiter kamen nach Norden, die Touristen nach Süden, als wäre nichts gewesen. Das konnte nur möglich sein, weil stabile emotionale Beziehungen zwischen beiden Ländern existierten.
Vielleicht ist da auch was verdrängt worden?
Chiellino: In der italienischen Kultur gibt es schon eine gewisse Leichtigkeit im Umgang mit der Geschichte, so wie es in einem neapolitanischen Lied heißt: "Wer gehabt hat, hat gehabt. Wer gegeben hat, hat gegeben. Vergessen wir die Vergangenheit." Deutsche konnten wahrscheinlich auch deshalb einen konfliktfreien Urlaub in Italien machen, weil sie vorwiegend an die Adria fuhren, also dorthin, wo auch die Norditaliener Ferien machten. Da wirkte eine Gemeinsamkeit des Wohlstands.
Bei den Gastarbeitern war es wohl eher der Wunsch nach dem Ende der Not.
Chiellino: Es war mehr. Da ist ein interessantes Bild in der Ausstellung, das begeisterte Gastarbeiter bei ihrer Ankunft in Deutschland zeigt. Diese Euphorie der Einwanderer heißt: Endlich bin ich an einem Ort, wo ich etwas erreichen, wo ich mein Lebensprojekt verwirklichen kann! Das war für viele in Italien nicht möglich, weil es nicht genügend Arbeitsplätze gab. Für andere wie mich war es nicht möglich, weil die gesellschaftlichen Regeln dagegen standen. Ich als Bauernsohn konnte zwar studieren, aber eine Universitätskarriere hätte ich nur über Beziehungen machen können.
In Deutschland ist das Gastarbeiter-Thema meist mit Schuldgefühlen besetzt.
Chiellino: Die sind ja auch schlecht empfangen worden. Aber da war auch diese Euphorie, dieses Gefühl der Freiheit. Ich hätte mir gewünscht, dass die Ausstellung dieses große, wahrscheinlich unbewusste Versöhnungsprojekt der Gastarbeiter und der Touristen noch mehr würdigt. Das ist keine Leistung der Intellektuellen, sondern der einfachen Leute.
Der Ausstellung ging es wohl vor allem um die kulturellen Beziehungen.
Chiellino: Das ist ja auch berechtigt. Es gab über Jahrhunderte intensive kulturelle Beziehungen - die italienischen Künstler mit ihrem Einfluss nach Norden, die nach Bildung suchende deutsche Mittelschicht, die Italien bereiste.
Italien spielte da den gebenden Part.
Chiellino: Das wird zwar so behauptet, aber es stimmt nicht ganz. Italien ist ein Ort der Vermittlung, hat vieles aus der griechischen, jüdischen, arabischen Kultur übernommen und weitergegeben. Aber die Italiener müssen sich abschminken, dass ihr Land die Wiege der Zivilisation sei. Ich stamme aus Kalabrien, und die dortige ionische Küste war ein Umschlagplatz für Kultur. Mit ihrem handwerklichen Geschick und ihrem Gespür für Kunst haben die Italiener umgewandelt, was dort ankam - nicht mehr und nicht weniger.
In Richtung Norden haben sie jedenfalls Kultur gegeben.
Chiellino: Andererseits war das im Papst-Katholizismus befangene Italien aber nie bereit, die deutsche Errungenschaft der Aufklärung anzunehmen, die Reformation, die die Deutschen in ihrem Denken und Fühlen weitergebracht hat. In meinen Gedichten sage ich, dass das Licht im Norden ist. Die Folge der Verweigerung ist, dass in Italien heute noch ein System der einzigen Wahrheit herrscht, dass kein Grundkonsens der Parteien möglich ist, dass so jemand wie Berlusconi an die Macht kommen kann.
Berlusconi scheint zurzeit zu schaffen, was der Mafia bisher nicht gelang - die Liebe der Deutschen zu Italien etwas abzuschwächen.
Chiellino: Die Deutschen suchen in Italien - ohne die Realität des Landes zu sehen und zum Teil mit einer an Naivität grenzenden Euphorie - Schönheit und Harmonie, sehen es als Ort der Wiedergeburt. Da ist es schon hart, einen Politiker erleben zu müssen, der das Gegenteil von all dem verkörpert. Angela Bachmair