Augsburg. Das Werk des deutschen Komponisten Kurt Weill wurde in Deutschland gevierteilt - und zwar zweimal. Erst perfide von den Nazis, danach kategorisierend von den Musikhistorikern. Sie gliederten sein Oeuvre in einen deutschen und in einen amerikanischen Weill, zudem in einen Schrägstrich-Weill und in einen Weill ohne Schrägstrich
Der Schrägstrich-Weill ist der Brecht/Weill (Dreigroschenoper, Mahagonny, Todsünden); der Weill ohne Schrägstrich ist der restliche deutsche Weill.
Zwei Männer werden Freunde
Nun hat das Theater Augsburg einen restlichen Weill reanimiert. Und siehe da: Der Dreiakter steht dem Schrägstrich-Weill im Grunde nicht nach - auch weil der Stoff von einem in Deutschland einst hochgeschätzten, vielgespielten Dramatiker stammt, von Georg Kaiser.
"Der Silbersee" heißt das Stück, dessen Bühnenrealisierungen hierzulande und in den vergangenen 30 Jahren wohl an fünf Fingern abzuzählen sind. Der Untertitel lautet "Ein Wintermärchen", und dafür, dass Weill ansonsten dem antipathetischen, "berichtenden" Musiktheater referenzhaft Stimme verlieh, endet der "Silbersee" auch erstaunlich märchenhaft und visionär-hoffnungsvoll: Zwei Männer, die sich zuvor nach dem Leben getrachtet hatten, werden erst beste Freunde - und dann vom gemeinsamen Selbstmord durch Ertrinken abgehalten, weil der "Silbersee" weit vor der Jahreszeit urplötzlich zufriert (komplette Inhaltsangabe siehe Info-Kasten).
Eine Moral dieses Lehrstücks steht final zu J. S. Bach-Choral-Anklängen nahezu in gottvertrauend-christlicher Tradition: "Und wenn du denkst, es geht nicht mehr, dann kommt von wo ein Lichtlein her."
Für Weill selbst - Musikgeschichte kann sarkastisch sein - gab es 1933, nach Beendigung der Partitur, erst mal kein Lichtlein mehr in Deutschland. Am 30. Januar wurde Hitler zum Reichskanzler ernannt, am 18. Februar wurde der "Silbersee" gleichzeitig in Leipzig, Magdeburg und Erfurt uraufgeführt - und zwar in Relation gesetzt zu den politischen Umständen erfolgreich -, aber schon Anfang März infolge der Nazi-Hetze an allen drei Bühnen wieder abgesetzt. Am 21. März flüchtete Weill im Auto nach Frankreich. Sein Silbersee, der - wie es im Stück heißt - trägt, wenn man weiter muss, konnte nur im Exil liegen.
Für Augsburg hat den "Silbersee" jetzt Manfred Weiß inszeniert, und zur Blutsbrüderschaft von Schauspiel und Oper (respektive Operettenparodie) bittet er noch das Orchester als Zeugen und als "dramatische Person" auf die Hinterbühne, die sich schwindelerregend hebt und senkt mit einer Amplitude von insgesamt wohl vier Metern.
Aber auch auf der Vorderbühne fahren Hubpodien in der gesamten Bühnenbreite immer wieder auf und ab - sinnfällig das dramatische Auf und Ab des Lebens, das gesellschaftliche Oben und Unten, profan auch nur Dachboden und Keller ins Bild setzend - und zwar abstrahierend, mit sparsamer Requisite (Bühne: Timo Dentler, Okarina Peter) und ein wenig Modetanz (Choreografie: Dimas Casinha).
Zwar führt Weiß immer wieder Brechungen der Story ein, indem er beispielsweise die Handlung im aufkommenden Nazi-Deutschland ansiedeln lässt (Kostüme: Birgitta Lohrer-Horres) und die nahezu triefende Sozialromantik des Werks durch einen Öl-"Schinken" von Männerverbundenheit ironisch kommentiert, aber insgesamt "erzählt" und "berichtet" der Regisseur den abenteuerlichen Fortgang der Dinge, bei dem der alte Hochadel einmal mehr Gewinner des Tages ist, wohltuend "sachlich", reduziert, holzschnitt- und zeichenhaft. Das ist theatralisch so geboten wie wirkungsvoll. Dieser "Silbersee" liegt goldrichtig.
Und Kurt Weills Musik ist der Schatz darin - zumal seine fulminante (Song-)Schmissigkeit, seine wehmütigen Trompetenkantilenen (ganz stark: die Ouvertüre!) exzellent vom Philharmonischen Orchester und vom Chor unter dem Präzision verlangenden Kevin J. Edusei umgesetzt werden. Edusei hatte wohl nichts Besseres widerfahren können als das kristallklar-kalte Silbersee-Wasser. Und schließlich rundeten fulminant aufsprechende Sänger und ausgezeichnet singende Schauspieler den Abend so ab, dass das Publikum rhythmisch klatschte - wohlgemerkt bei einem kaum gespielten Stück!
Scheinmütterliche Diktatorin
Stellvertretend für das gesamte Ensemble seien fünf Namen hervorgehoben, die als scharf gezeichnete Charakterköpfe bzw. tragende Vokalsolisten bestachen: Michael Suttner als wahnhafter, ausgezeichnet prononcierender Hungerleider Severin; Kerstin Descher als scheinbar mütterliche, in Wahrheit aasige Frau von Luber; Martin Herrmann als in seiner Großzügigkeit aufblühender Olim; Roman Payer als tenoral glänzender Lotterieagent/Baron Laur; Stephanie Hampl als entzückende, doch hin und her gestoßene Fennimore. Hochinteressantes Musiktheater des 20. Jahrhunderts, anhören, ansehen!
Nächste Vorstellungen: 5., 11., 14., 17., 20., 22. und 28. Februar